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Zwei Kehrseiten derselben Medaille…

 

Dieser Text möchte einen Beitrag für die gegenwärtigen Diskussionen und politischen Entwicklungen leisten, die insbesondere nach der brutalen Enthauptung des französischen Geschichtslehrers Samuel Paty entfacht sind. Angesichts der barbarischen Brutalität mit dem der Terrorakt verbunden ist, sind die Emotionen und der Schock, der sehr viele Menschen zurecht gefasst hat, noch zu hoch, um eine in die Zukunft gerichtete sachliche Auseinandersetzung anzusetzen. Dennoch ist es eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit die gegenwärtigen Entwicklungen mit ihrer historisch wie politisch kontextuellen Einbettung zu analysieren, um Wiederholungen dieser Vorfälle zu verhindern; in Respekt, Gedenken und Erinnerung an Samuel Paty und allen jenen Menschenrechte- und Demokratieverfechter*innen, die weltweit islamistischen und anderen Terrorakten zum Opfer gefallen sind…

Zwei Kehrseiten derselben Medaille

Politische Herausforderungen und soziale Fragen werden in Zeiten, in denen Politik durch PR und Inszenierung dominiert ist oft wechselseitig religiös und kulturell reduzierend diskutiert. Annahmen, Teleologien, identitätspolitische Fragmentierung und gesellschaftliche Polarisierung dominieren den Raum. Es wird mit Symbolismen gearbeitet und die Idee von Huntington, „clash of civilisations“ gefördert. Die Gefahr, der wir heute gegenüberstehen, ist nicht nur (!) politisch-islamistische Gewalt (insbesondere ihre salafistisch-dschihadistische Terrorversion). Die Gefahr ist außerdem wie zuvor nach dem Massaker und Terrorattentat von 9/11, die Möglichkeit in einen neuen „clash of fundamentalisms“ hineingezogen zu werden (siehe dazu: Tarık Ali). Die politisch-islamistische Gewalt ist nur eine Seite der Medaille.

Zum Beispiel instrumentalisieren Boko Haram, der IS und seine Versionen die Unterdrückung in der islamischen Geographie als Material für die Erzählung und Propaganda eines „Religionskrieges gegen die Kreuzzügler des 21. Jahrhunderts“. Mit einer barbarischen Gewaltkampagne wird die Wut des Unterdrücktseins in der Zeichnung einer Welt, die in eine christliche Herr- und muslimische Knechtschaft dichotom gedacht wird, degeneriert. Dabei hält die Geschichte die global westliche Herrschaft, samt ihrer Kreuzzüge, den Rassismus, die Inquisition, der Sklaverei, die Kolonialzeit und die gegenwärtigen globalen Macht- und Interessenkämpfe genauso fest, wie sie die unterdrückerischen Herrschaften v.a. sunnitisch-muslimischer Regierungen und Machtansprüche, den muslimischen Kolonialismus und die Sklaverei samt fanatischen Ausartungen, die nicht nur im asymmetrischen Kampf gegen den globalen imperialistischen Westen gerichtet wird, festhält. Nachdem besonders die Diskussionen in der Social Media auch darum kreisen, wer die Modernen und Zivilisierten und wer die Rückständigen und Barbaren der Welt sind, wo beide Seiten jeweils Deutungshoheit über den anderen üben, soll auch festgehalten sein, dass neben den positiven global-westlichen Errungenschaften wie dem Humanismus und der Aufklärung, die immer mehr von rechts-populistischen Institutionen und Diskursen vereinnahmt und zweckentfremdet werden,  auch die positiven Errungenschaften in der islamisch geprägten Welt bevor sie salafistische Ausartungen entwickelte, nicht zu übersehen sind.

Die islamistisch motivierten Terrorakte, die gegenwärtig in den Zentren Europas passieren, plagen bereits seit Jahren und Jahrzehnten die Völker des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas. Es ist interessant zu fragen, warum es ausgerechnet Gruppen und Personen aus den Reihen der muslimischen Glaubensanhänger sind, die diese und solche Terrorakte ausüben und Ähnliches aus den Reihen indigener Völker und den Nachfahr*innen der afrikanischen Sklav*innen in den USA nicht aufzutreffen ist? Genauso, wie es interessant ist zu fragen, warum es nicht die chinesische Herrschaft gewesen ist, die überhaupt die ersten Seefahrer der Welt hervorbrachte, die im Gegensatz zu den europäischen Seemächten die entdeckten Regionen jedoch nicht kolonialistisch besetze und knechtete? Gleichzeitig wurden die Bomben, die im Zuge der Dispute mit den Despoten des Nahen Ostens, die aus imperial-politischen Interessen zunächst eingesetzt und gefördert wurden, im Namen der Demokratie und Aufklärung auf die Völker in der Region geworfen. Der Krieg gegen jenen Teil der Welt, die als Barbaren und Feinde demokratischer Werte des zivilisierten globalen Westens erzählt wurden, wird seit den Vorfällen von 9/11 fortgesetzt. Gruppen, wie z.B. der IS hingegen, skizzieren den globalen Westen in ihrer Propaganda als moralisch verkommen, sexistisch und unterdrückerisch und praktizieren gleichzeitig selbst sexistische Unterdrückung der Frauen, Sklavenhandel sowie Kindesmissbrauch. Monatelang erklärten Journalist*innen vor Ort, dass es sich auch um psychopathische und drogenabhängige Söldner handelt, die von überall auf der Welt geholt und im Syrienkrieg eingesetzt wurden.

Zuerst riefen die arabischen Frauen „Wir wollen nicht die Bastarde der amerikanischen Soldaten auf die Welt bringen!“. Danach waren es kurdische Frauen, die schrien: „Rettet uns vor der Vergewaltigung und dem Missbrauch der Dschihadisten!“. Frauen und Kinder sind die größten Verlierer*innen dieser Politiken, wo sie außerdem von allen Seiten in einer nicht enden wollenden sexistischen Sprache zum Gegenstand einer reaktionären Politik gemacht werden.  Es reichen keine Worte, um diese Barbarein zu beschreiben, dennoch müssen auch sie im Kontext der Politik, die sie hervorgebracht hat überdacht, durchdacht und neu in den Raum gestellt werden; ein Phänomen, dem im Männer-dominierten Diskurs weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird. [Diese Aufzählungen dienen keiner Relativierung und keiner Entschuldigung für die Gräueltaten, die im Namen der Religion passieren. Das ist eine Bemühung zum Eruieren global-politischer Macht- und Interessenverhältnisse, die nicht nur eine Seite hat.]

1. Re-Religionisierung und kulturell-rassistischer Determinismus

1.1. Wie werden der Standpunkt und die Politik der Türkei wahrgenommen?

Insbesondere seit 2011 und viel stärker ab 2015 wirft sich der türkische Präsident R.T.Erdoğan, in seiner selbstauferlegten Rolle als Sprecher der Muslim*innen gegen den globalen Westen ins internationale Rampenlicht. In die Innenpolitik ausgerichtet möchte er demonstrieren, dass er sehr wohl in der gleichen Liga sein kann wie die global westlichen Politiker*innen – eine Rolle, die er seit seiner „One Minute-Show“ in Davos zu spielen bemüht ist. Gleichzeitig will er den neo-osmanischen Anspruch erheben Vertreter und Verteidiger der muslimischen Völker und Staaten zu sein. Dabei befindet sich die Türkei sowohl politisch als auch wirtschaftlich in einer Krise. Wirtschaftlich galoppiert das Land in abgründige Tiefen, während sie politisch keine Strategien und Lösungen bieten kann. Kritische Journalist*innen hinterfragen sogar, ob diese Regierung überhaupt noch über irgendeine Strategie verfügt? Mittlerweile vergeht keine Woche, wo die Bevölkerung, die darüber hinaus mit der Covid19-Pandemie geradezu alleine gelassen und ständigen Erdbeben überfordert ist, nicht mit neuen Entwicklungen, die sich an der Kippe entlang von Kriegsausbrüchen bewegen, überrascht und schockiert wird. Die Politiker, die es grandios geschafft haben mit keinem Land der Welt gute diplomatische Verhältnisse mehr zu pflegen, sind bemüht die vorhandenen Krisen mit selbst-erzeugten oder sich global-ergebenden weiteren und neuen Krisen zu übertünchen. Diverse Analytiker*innen sind sich darüber einig, dass das Land in Wirklichkeit keine Außenpolitik mehr, sondern als ein Kriegsregime ein Krisenmanagement betreibt. Dennoch ist die Türkei in Libyen zwar auf dem Kriegsfeld, jedoch nicht bei den diplomatischen Verhandlungen in der Schweiz und in Tunesien beteiligt. Ebenso ist die Türkei in Aserbaidschan indirekt auf dem Schlachtfeld, jedoch ebenso nicht am Verhandlungstisch, die in den USA, in Kanada, in Russland und in der EU tagt. Im östlichen Mittelmeer wurde die Türkei dieses Mal sogar selbst in ihren rechtlichen Ansprüchen völlig über- und hintergangen und schafft es auch hier nicht Verbündete zu finden. Am Ende des Tages gilt festzustellen, dass es die Art und Weise Erdoğans ist, wie er Politik betreibt, die Konflikte erzeugen und unnötig hochtreiben. Als Konsequenz erklärt Russland, dass die Türkei nicht mehr als strategischer Partner gesehen werden kann, während Macron von der Notwendigkeit der Beendigung der NATO-Mitgliedschaft des Landes spricht, wo die USA noch meint: Ist die Türkei jetzt Freund oder Feind?

1.2. Wie weiter mit einer Erdoğan-Türkei?

Die einzig sichtbare Präsenz des Landes, das auf internationaler Ebene mit geradezu fast jedem Staat in Konflikt geraten ist, zeigt sich in den unaufhörlichen verbalen Attacken Erdoğans gegenüber anderen Staatsoberhäuptern und in seinem aufrechten militärischen Power, die es in Libyen sogar gegen die chinesischen und in Aserbaidschan gegen die russischen Kriegsdrohnen einsetzen konnte. In der Argumentation diverser kritischer Journalist*innen scheint die internationale Politik vor der Herausforderung zu stehen, wie und was sie unter diesen Umständen und unter der Berücksichtigung diverser Politik- und Handelsbeziehungen sowie der geostrategischen Frage mit einer Erdoğan-Türkei weitermachen können? Der Journalist, Can Dündar geht einen Schritt weiter und erklärt, dass Trump jene Sprache spricht, die Erdoğan versteht und Putin den Sultan längst durchschaut hat, jedoch es die EU ist, die die AKP seit mittlerweile fast zwanzig Jahren nicht begreifen kann. Darüber hinaus, dass es die EU ist, die zunächst jahrelang bis zur sogenannten „Flüchtlingswelle“ gedacht hat, dass die Erdoğan-AKP eine liberal-muslimische demokratische Partei ist. Aus dem letzten Bericht, den die sechs angesehenen Think Tanks der EU gemeinsam verfasst haben, liest Dündar heraus, dass die EU nach wie vor jegliche Erfüllung demokratie-politischer Richtlinien für ihre Handelspolitischen Interessen und Nutzen preisgeben möchte.

Die Legitimierung seiner sehr launischen und verwirrenden Politik vor der Bevölkerung sucht Erdoğan in der Anspielung auf die nationalistischen und religiösen Gefühle, eine Methode, die seit der Gründungszeit der Republik angewendet wird. Im Narrativ der türkisch-muslimischen Brüderschaft konnte die Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kampf gegen den christlich-imperialistischen Westen mit Slogans wie „Allein der Türke ist des Türken Freund“ und „Die Welt ist des Türken Feind“ mobilisiert werden. Das ist ein Narrativ, das bis heute das Staatsparadigma ausmacht und die gemeinsame schriftliche Stellungnahme untermauert, die von der Erdoğan-Regierung gemeinsam mit der längst ver-ohnmächtigten Opposition in Reaktion für den Disput mit dem französischen Präsidenten nach der Ermordung von Samuel Paty verfasst und unterzeichnet ist. Während ein klares und offizielles Beileid für die Terrorattacken in Frankreich vonseiten aller Parteien in der Türkei – selbst der Republikanischen Volkspartei, CHP, die Mitglieder der Sozialistischen Internationale ist – bis heute aussteht, ist im Gegenteil sogar eine politische Zuspitzung mit einer nationalistisch und religiös durchtünchten Sprache, die den europäischen Rassismus und die Islamophobie ins Visier nimmt tagesaktuell. Das ist eine polarisierende Situation, die das Zusammenleben, der durch Vielfalt gezeichneten Bevölkerungsgruppen in den europäischen Staaten in Gefahr und Unmut bringt. Es ist diese geschaffene Kriegsatmosphäre, die die militärischen Einsätze und Unterstützung z.B. in Syrien, sowie in Libyen und zuletzt Bergkarabach samt Einsatz dschihadistischer Söldner für die rechtskonservativen Kräfte samt sogenannter Opposition im Land tragbar macht.

1.3. Kriegsregime und Krisenmanagement

Nach Recherchen oppositioneller Journalist*innen befinden sich um die hunderttausend Dschihadisten in der Türkei – teilweise gemeinsam mit ihren Familien, die wie „normale“ Bürger*innen im Land leben und jederzeit einsatzbereit sind. In Afrika sind es um das Vielfache mehr. Das Interesse der Medien hat sich längst von Syrien abgewendet und sich zuerst auf Libyen gerichtet, wo diese Dschihadisten zuletzt eingesetzt waren. Die Absichten der Türkei in Afrika/Sahelzone Macht- und Herrschaftsetablierung zu erringen, stehen im direkten Zusammenhang mit dem Anspruch mit den imperialistischen großen Brüdern zu konkurrieren. Gegenwärtig werden die Dschihadisten nach Bergkarabach entsandt und vollziehen ihre Terrorakte in einem Konflikt, in dem die Türkei wie zuvor in Syrien auch ordentlich mitmischt.

Die Flüchtlinge, die die Konsequenz imperialistischer Kriegsführung im Nahen Osten sind, die dann im sogenannten „Flüchtlingsdeal“ endeten, binden Hände und Füße Europas und werden zu einem Joker in der Hosentasche der Türkei. Auch die Rolle als Verteidiger des Islam und das Führerschafts-narrativ über die ehemaligen osmanischen Staaten scheinen weniger die arabischen Staaten, aber sehr wohl den rechtspolitisch-gesinnten Teilen der eigenen Bevölkerung zu interessieren. Diese wurden zuletzt mit der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee im Namen und für die „türkisch-sunnitisch-muslimische nationale Einheit“ noch einmal gepuscht und motiviert.

2. Die Inszenierung der „Nationalen Einheit“, anti-arabischer Rassismus und „religiös-kulturelle Brüderschaften“

Die Zunahme nationalistischer, religiöser und rassistischer Spannungen ist unter anderem auch eine Folge der Verschärfung der Fronten beider Länder in der Ägäis. Zuvor erklärte der französische Präsident Macron, dass der „Islam in einer Krise stecken würde“. Auch da wurde die Öffentlichkeit über Twitter, die in der Türkei sehr intensiv verwendet wird, mit den hiesigen verbalen Attacken der Funktionäre der türkischen Regierung gegen die Politiker*innen des globalen Westens auseinandergesetzt. Diese Reaktionen der AKP-Politiker werden von einigen kritischen Journalist*innen, die sich in diversen europäischen Staaten im politischen Exil befinden, vehement kritisiert, jedoch sind sich alle darin einig, dass das leider das Niveau dieser Regierung ist und viel anderes nicht mehr zu erwarten ist.

Die Inszenierung einer „Nationalen Einheit“ und „kulturelle Brüderschaft“ wird auch in Frankreich geübt. Die Terrorattentate in Frankreich scheinen insbesondere den Vertretern des reaktionären Flügels der Regierung, wie der Innenminister Gérard Darmanin und der Bildungsminister Jean-Michel Blanquer eine Gelegenheit zu bieten. Die stigmatisierenden und kriminalisierenden Positionen beider Minister erreichten höhere Stufen und in ihren Argumentationen und Forderungen stärkten sie die längst herrschenden Vorurteile gegen muslimische Mitbürger*innen im Land. Damit einhergehend steigen die Zahlen der rassistischen Angriffe auf diese, so zuletzt die Messerattacken auf zwei Kopftuchträger*innen in Paris. Gleichzeitig passierten weitere Enthauptungsgräueltaten in Nizza bei Notre-Dame. Im Gegenzug wurde im Saudi-Arabien ein Brandanschlag auf die französische Botschaft verübt. Der Ex-Premierminister von Malaysia Mahathir Mohamed sagte zuletzt: „Die Muslim*innen haben aufgrund der Vergangenheit ein Recht dazu Franzos*innen zu töten“. In Reaktion zu diesen Entwicklungen rücken die Slogans und Ideen von rassistischen und rechts-radikalen Parteien in Frankreich erneut in den Vordergrund bis hin zu den öffentlichen Diskussionen von Expert*innen, die eine zum Teil zu Pauschalisierungen neigende, gesamte Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht stellende Bilder führen. In Österreich spiegelte sich das mit der Reaktion der Integrationsministerin Raab, die die „Tschetschenische Szene“ ins Visier nehmen und dem Bundeskanzler, der die „Christ*innen im Land beschützen“ möchte. Eine spaltende Sprache, womit die reaktionären Kräfte im Islam die reaktionären Kräfte in Frankreich und Europa provozieren und anheizen, wobei die letzteren einen größeren Einfluss zu haben vermögen, da sie die Werte der Aufklärung, Moderne, Freiheit und Demokratie deterministisch zu repräsentieren inszenieren.

2.1. Zurück in die politische Atmosphäre zu Zeiten des G.W. Bush

Die Szenen erinnern an die politische Atmosphäre zu Zeiten des G.W. Bush, der den Irak demokratisch zerbombt und dem Boden gleich gemacht hat. Der Imperialismus jongliert mit nationalen und globalen Einheitsnarrativen, um gesellschaftliche Zustimmung und Legitimität für sein weiteres Funktionieren und Agieren zu erringen. Gleichzeitig kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Weg zur Erringung des gesellschaftlichen Konsens für dieses Narrativ mittels der Benutzung der Ideen der Aufklärung und Werte der Menschheit beschritten werden, um die Mitglieder des Gesellschaftsvertrags auch mental z.B. für die „Demokratie-Projekte“ im Nahen Osten zu überzeugen, die im Wesentlichen durch „made in the US“ gekennzeichnet sind. Frankreich betreibt nach wie vor imperialistischen Interventionismus und führt Militäroperationen im Tschad, in Mauretanien, in Mali und im Niger. In Libyen und Ägypten ist es ebenso präsent am Militärschauplatz. Seine Rolle in Syrien ist bekannt. Bewaffnet und eingesetzt werden dabei eben diese und diverse Versionen dschihadistischer und salafistischer Gruppen. Journalistin Nuray Sancar erklärt, dass Frankreich die alte Kolonialpraxis im östlichen Mittelmeerraum und in Afrika wiederzubeleben versucht, während die Türkei das neo-osmanische Narrativ der Wiedergewinnung der islamischen Länder erprobt. Offensichtlich brauchen die Herrscher beider Länder diese Verschärfung der Fronten, einerseits auch um die sozialen und politischen Unstimmigkeiten in ihren eigenen Häusern wieder unter Kontrolle zu bringen: Während das eine Land die Gelben Westen im Nacken hat, spürt das andere Land die wachsende und konzentrierte Wut der oppositionellen Kräfte in der Gesellschaft.

2.2. Anti-arabischer Rassismus in Frankreich

Weiters gibt es eine aggressive Einwanderungsbekämpfung im Land. Innenpolitisch konkurriert Macron mit Le Pen. Auch dieses Rennen ist leider ein Rennen zwischen Vertreter*innen und Träger*innen rechts-konservativer und rassistischer Politik. In den letzten Jahren hat Macron die Inhalte vom rechts-populistischen politischen Lager übernommen und den Weg in einen autoritären Polizeistaat geebnet sowie die ultra-rechts und neoliberale Wirtschafts-, Sozial- und Sicherheitspolitik vorangetrieben. Dabei wurde besonders auf das Feindbild „muslimischer Araber“ konzentriert, wo die Konsequenzen einer Verbindung zwischen Rassismus und autoritärem Neoliberalismus besonders bei den Jugendlichen in den Banlieus zu spüren sind: Diskriminierungen und Benachteiligungen am Arbeitsmarkt, im Bildungswesen, am Wohnungsmarkt im Gesundheitswesen etc. Ausgeschlossen von der französischen Politik und Ungleichheiten in den Lebensräumen, die sie als ihre Lebensmittelpunkte sehen, finden besonders die Jugendlichen in der vierten und fünften Generation der Einwanderung Anschluss in den ebenso reaktionären Stimmen, die sich von der anderen Seite des Bosporus entfachen. Der anti-arabische französische Rassismus, der alltäglich erfahren wird und wenig mediale Aufmerksamkeit findet, drängt die perspektivlosen Migrant*innen und Nachfahr*innen der im Rahmen von französischer Kolonialpolitik Unterdrückten in die Richtung eines reaktionären europäischen Islamismus. Jahrzehntelanger Sozialabbau und Beschneidung sozialer wie politischer Errungenschaften drängen die perspektivlosen weißen Franzos*innen hingegen in das rechts-radikale politische Spektrum. Die imperialistisch motivierten Geopolitiken Frankreichs im Nahen Osten und in Afrika fügen ihren Zusatz für die Entwicklung einer äußerst dynamischen Frontenzuspitzung bei, die beiderseitig in Pauschalisierungen münden, die von einer rechtspopulistischen Politik noch einmal gestärkt wird: Weiße Franzosen gegen arabische Muslime und umgekehrt.

3. Das Feuer ist an keine geographische Lokalität gebunden

Es war eine Frage der Zeit, dass die Hölle, die im Nahen Osten erzeugt wurde irgendwann innerhalb der Festung Europas landen würde. Die Attentäter, die die letzten Morde ausführten, waren zudem Personen, die nur kürzlich – allem Anschein nach, um genau diese Aktionen zu vollziehen, eingereist sind. Die Vorankündigung dieser Entwicklungen hatten sich bereits in den Terrorangriffen seit 2014 in den Zentren Europas gezeigt. Im Gegensatz zu 9/11, wo die Techniken und Infrastruktur aus dem globalen Westen verwendet wurden, um wieder gegen den Westen eingesetzt zu werden, wird heute mit Brotmessern vorgegangen. Jene Dschihadisten, die im Nahen Osten im Rahmen von Stellvertreterkriegen eingesetzt wurden, setzen ihre Waffen nun wiederholt gegen den Westen selbst ein. Damit schaukeln sich vor allem die reaktionären Kräfte der Länder gegenseitig hoch und fördern im Endeffekt im globalen Westen z.B. die Etablierung und Stabilisierung von Sicherheitsregimen.

Der Krieg im Nahen Osten, die dann mit Syrien angeheizt wurde und bedingt durch die globalen Macht- und Interessenverhältnisse nicht die gleichen Resultate erzielen konnte wie zuvor im Irak, demonstrierte deutlich wie selbst eingesetzte Söldnertruppen und dschihadistische Kräfte völlig außer Kontrolle geraten konnten. Die Pauschalisierungen und die Stellung gesamter Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht scheinen einfache Antworten auf äußerst komplexe und dynamische Phänomene bieten zu wollen. Die Situation entfacht sodann zu einer Gratwanderung, wo im hochgeschaukelten Kampf gegen den politischen Islam sich selbst liberal bis links-gesinnte Personen und Gruppen, teils eingeschüchtert vom herrschenden Kanon der Ächtung des politischen Islam, wo die Grenze zu den muslimischen Gläubigen jedoch besonders hybrid ist, und teils unreflektiert und geradezu in Amnesie-hafter Verblendung in den Reihen der sogenannten französischen bzw. türkischen und muslimischen „nationalen Einheit“ wiederfinden können.

4. Reaktionäre Kräfte schaukeln sich gegenseitig hoch

In den letzten Jahren wurde insbesondere Frankreich Bühne für islamistische Terrorattacken. Allein in diesem Jahr, 2020 wurden durch Personen, die erklärten radikale Islamisten zu sein, fünf tödliche Attentate verübt (3. Januar, 4. April, 27. April, 25. September und zuletzt 16. Oktober). Insbesondere von manchen Intellektuellen, Journalist*innen und Akademiker*innen, die vom Erdoğan-Regime flüchten mussten, gibt es kritische Diskussionen zur Frage der Bewahrung eines mittelalterlichen Paradigmas im Islam und ihren Zusammenhang mit dem Diasporaleben von muslimischen Migrant*innen in den europäischen Staaten. Der Akademiker Gökhan Bacik z.B. argumentiert, dass eine Vereinbarkeit und Übereinstimmung dessen mit der europäischen Meinungsfreiheit nicht möglich ist. Daneben ist es spannend, dass es die Nachkommen jener Migrant*innen der 1950er und 1960er Jahre sind, die selbst nicht radikalisiert waren. Die Nachkommen erfahren jedoch sozialen und politischen Ausschluss, Diskriminierung und anti-arabischen Rassismus, wo sie auch durch die globalen Entwicklungen, in Reaktion noch einmal in Richtung Fanatisierung gepuscht werden. Die Gruppendynamiken und Dominanzverhältnisse innerhalb der Gesellschaften gilt es besonders unter die Lupe zu nehmen. Die Diskussionen rund um den Islam benötigen im ersten Schritt die Akzeptanz, dass es einen europäischen Islam gibt, eine Religion, die auch Teil der europäischen Kultur und Geschichte ist. Wieso können z.B. einige Kinder, die in Frankreich zur Welt gekommen, dort aufgewachsen und die durch das französische Bildungssystem gehen nicht gänzlich für die aufklärerischen und demokratischen Ideen gewonnen werden? Was sind die wechselseitigen Dynamiken und Spannungen dahinter? Im nächsten Schritt braucht es ein gewisses Niveau und einen entsprechenden Rahmen, in dem diese Diskussionen reflektiert, differenziert und sensibilisiert stattfinden können. Vor allem braucht es den Respekt, die Akzeptanz, die Fürsorge, die Anerkennung und die Wertschätzung füreinander. Nein, das ist keine naive Herangehensweise auf und Umgangsansatz mit dem Problem, sondern sucht sie nach Optionen und Methoden, die konsequent, nachhaltig und klar gleichberechtigte Existenzen in gemeinsamen Lebensräumen unter den Bedingungen der Freiheits- und Menschen- sowie insgesamt demokratischer Grundrechte, die für alle Menschen gleich gültig sind. Es ist die Suche nach Möglichkeiten der Förderung positiver und gemeinschaftlicher Zugehörigkeitsgefühle, die nicht mehr für nicht-gutgemeinte Versuche äußerer Einflußnahmen zugänglich sind. Denn die gegenwärtigen politischen Entwicklungen fördern einen Diskurs der gesellschaftlichen Spaltung und nicht den eines friedlichen Zusammenlebens unter gleichberechtigten Bedingungen in menschlicher Würde. Ein Diskurs, der nicht im Interesse jener ist, die tagtäglich unter immer enger werdenden sozialen und politischen Umständen, um ihre Existenzen ringen müssen.

4.1. Satire vs. Meinungsfreiheit

Inzwischen eskaliert die Situation geradezu täglich, und während Charlie Hebdo mit einer neuen Karikatur offensichtlich weiterhin Mienen auf das Feld zu streuen bemüht ist, wurden in Deutschland und Österreich christliche Gebetshäuser und Kirchen gestürmt.

Die zunächst als kritische Stimme der Gesellschaft erschienene Satirezeitung fungiert seit Längerem nicht mehr als solche. Im Gegenteil, sie dient sogar dem rechtspopulistischen politischem Spektrum und geradezu als das Sprachrohr der neoliberalen, konservativen und rechten Regierung Frankreichs. Die letzte veröffentlichte Karikatur ist nicht nur ein Angriff auf Erdoğan, samt Miteinbeziehung und Einarbeitung des politischen Diskussionsniveaus dessen und seiner Gefolgsleute und Anhängerschaft, sondern kitzelt das Bild – unter der gegenwärtigen politischen Atmosphäre auch provokativ an den nervlichen Grenzen muslimischer Glaubensanhänger*innen und kann in dieser Weise nicht einmal mehr unter einigen oppositionellen und kritischen Meinungsträger*innen eine Solidarisierung im Namen der Meinungsfreiheit erfahren. Z.B. können selbst die 15-20 Millionen Alevit*innen in der Türkei, die seit zig Jahren für den Laizismus und demokratischer Grundrechte kämpfen, keine öffentliche Stellungnahme beziehen, da sie bis heute mit neuen Pogromen rechnen müssen, zumal ihre Wohnungs- und Haustüren bis zum heutigen Tag durch reaktionäre Gruppen und Personen markiert werden. Auch die Muslim*innen, die allesamt als potentielle Terrorist*innen gesehen werden, fürchten um Diffamierung und mehr. Die Art und Weise, wie die Diskussionen gegenwärtig zugespitzt werden, gießen Benzin ins Feuer. Die Sprache des gegenwärtigen politischen Diskurses bietet wenig Möglichkeit der absoluten Solidarisierung seitens vieler Muslim*innen, die selbst „jeden Mord an einen Menschen als einen Mord an der Menschheit“ sehen. Der Akademiker und Intellektuelle Baskın Oran sagt, dass die Satire mit einer sexistischen und diffamierenden Sprache an die Grenzen der Meinungsfreiheit stößt, wenn noch dazu so viele Anhänger*innen eines Glaubens diesen doch nicht als Beleidigung zu empfinden bereit sind. Was bleibt z.B. jemandem, der/die aufgrund seiner/ihrer Pickel im Gesicht vor allen anderen lächerlich gemacht wird, weiter über als zu schweigen? Das Coverbild der Zeitung ist dieses Mal vor allem äußerst sexistisch. Die Gender- und Fraueninitiativen werden sowohl mit der politischen Atmosphäre, die von einer androzentristischen, sexistischen, militaristischen, rassistischen und spaltenden Sprache geprägt und dominiert ist, die sich dann in den letzten Karikaturen des Charlie Hebdo noch einmal manifestiert, weniger Freude haben. Vor diesem Standpunkt skizziert das Niveau der Kommunikation zwischen den männlich dominierten Staatsführungen und ihren Mannschaften jenes zweier schwer-pupärtierender Buben.

5. Antifaschistischer Block und Demokratiepolitische Solidarisierung

Zusammengefasst müssen sich Antifaschist*innen, Feminist*innen und Demokratieverfechter*innen darüber im Klaren sein, dass die errungenen Rechte nicht diversen Exklusionsmaßnahmen rechtspopulistischer und reaktionärer Politik, die völlige Zweckentfremdung betreiben, überlassen werden dürfen. Gleichzeitig darf der dynamische Kampf um die Demokratieverfechtung und das gleichberechtigte Zusammenleben in gleichen Lebensräumen in Menschenwürde nicht den Narrativen neoliberaler, rassistischer, sexistischer Politfiguren und Diskurse abgegeben werden. Die demokratischen Menschen- und Grundrechte haben die Völker nicht kampflos errungen und heute gilt es diese wieder gemeinsam zu schützen und zu verteidigen. Damit liegen die Fronten nicht horizontal zwischen den Kulturen, Religionen und Bevölkerungsgruppen, wo sie in einer politischen Atmosphäre, die erzeugt werden möchte zwischen Übel und Geringeres Übel – wie  zuvor bei 9/11 – entscheiden müssen, sondern zwischen faschistischen, reaktionären, autoritär-neoliberalen Diskursen und Strukturen und anti-faschistischen, egalitären Demokratieverfechter*innen.

Das Nachkriegseuropa wurde mit Unterstützung der muslimischen Migrant*innen aufgebaut. Aus wirtschaftlichen und/oder aus politischen Gründen haben oft die sozial am schwächsten situierten Menschen die Türkei verlassen und sind in die europäische Diaspora ausgewandert. In jeder Ecke, unter jedem Stein, hinter jedem Zaun, Grund und Boden steckt die Arbeit und der Beitrag auch muslimischer Mitmenschen, die nicht allesamt als potentielle Terrorist*innen unter Generalverdacht gestellt werden dürfen.

„Deine Heimat ist dort, wo du deinen Bauch satt kriegst“ ist ein türkisches Sprichwort. Damit sind sehr wohl auch die muslimischen Mitmenschen aufgerufen sich weder von der wachsenden rassistischen Gewaltatmosphäre in Europa einschüchtern noch von der hetzerischen Politik Erdoğans manipulieren und vereinnahmen zu lassen, sondern sich offen und mutig mit den antifaschistischen Demokratieverfechter*innen zu solidarisieren. Einige muslimische Mitmenschen sind sogar aufgerufen sich darüber im Klaren zu werden und zu reflektieren, wie es denn so ist, in den Staaten Europas für Gleichberechtigung zu plädieren und links-liberale Parteien zu wählen, und in den Herkunftsländern durch die Positions- und Umstandsänderung rechts-konservative Parteien zu unterstützen, zumal es die letzteren sind, die politische Hetze bis in die Diasporagemeinden in den europäischen Staaten hinein kommunizieren, jene europäische Staaten, die eben gemeinsam aufgebaut wurden.

Die Erfahrungen der Migration, die Sehnsüchte, das Heimweh, die Kämpfe in den neuen Lebensräumen, das gemeinsam Aufgebaute und Errungene etc. das alles kennen ein R.T.Erdoğan und seine Anhänger*innenschaft nicht; diese Meilensteine gehören nicht ihnen. Es muss genau klar sein, wohin der Weg der Radikalisierung und Anheizung der migrantischen Jugendlichen in Reaktion auf die rassistischen Politiken führt, anstatt Solidarisierungsachsen und Bündnisse mit demokratiepolitischen Kräften zu suchen, denn es sind weder alle Muslim*innen potentielle Terrorist*innen, noch sind alle autochtonen Europäer*innen reaktionäre Rassist*innen.

5.1. Was wollen wir?

Alle zusammen sind wir der Aufgabe gestellt die demokratiepolitischen Errungenschaften und die Zukunft der Kinder mit gehobenem Haupt und erhobener Stimme zu verteidigen. Es darf nicht zugelassen werden, dass die Werte der Aufklärung, Menschen-, Freiheits- und Demokratierechte im Narrativ rechts-populistischer, politischer Strukturen zweckentfremdet und fetischisiert, die Gesellschaften, Beschäftigten und Lohnabhängigen entlang kultureller und religiöser Zugehörigkeiten entsolidarisiert und gespalten werden. Denn, wir müssen die Ursprünge dieser Gewalt (z. B. imperialistisches Massaker im Irak, in Afghanistan, Libyen, Mauretanien, Somalia, Algerien) nicht vergessen, um gegen islamistische Gewalt vorzugehen. Wir müssen nicht vergessen, dass es die imperialistischen Machtinteressen und Ausbeutungsverhältnisse des globalen Westen gewesen sind, die Jahrzehntelang despotische und islamistische Regime und Gruppen eingesetzt, instrumentalisiert, bewaffnet und gefüttert haben (z.B. Taliban, IS, heute: Erdoğan, siehe z.B. Flüchtlingsdeal). Und wir müssen nicht im Kanon kundtun, dass wir auf der Seite des einen Übels sind, um imperialistischer Aggression, Einwanderungsbekämpfung und Fremdenfeindlichkeit im globalen Westen entgegenzuwirken. Wir müssen nicht die gleiche Sprache wie ein Erdoğan sprechen, der lächerlicherweise zum Boykott der französischen Produkte aufruft, sehr wohl im Wissen darüber, dass ein EU-Boykott für türkische Waren das Land dem Boden gleich machen würde, die letztere jedoch aufgrund diverser Handelspolitischer-und geostrategischer Interessen pragmatisch zu bleiben bemüht ist. Wir müssen auch nicht die sexistischen und niveaulosen Karikaturen von Charlie Hebdo lustig finden, um uns mit unseren französischen Mitmenschen solidarisch zu zeigen. Wir dürfen die Verbreitung und Normalisierung, Mainstream-Werdung islamophob-faschistoider Haltungen im globalen Westen nicht ignorieren. Denn der Kampf ist nicht zwischen den Werten des „globalen Westen“ und des „Islam“. Wir sind mit zwei verschiedenen Gesichtern derselben verzerrten Ordnung konfrontiert, die sich gegenseitig spiegeln und hochschaukeln; zwei Formen der „Barbarei“, die Ursache und Wirkung voneinander sind und ja einander ordentlich PROVOZIEREN.

zeynemarslan

31.10.2020

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