Über Turkishness, Racism, Misogynie… und Newroz 2021…

 

Seit 1933 sprechen alle Kinder in den türkischen Schulen mindestens Montags und Freitags bevor sie mit dem Unterricht beginnen diesen Eid: 

„Ich bin Türke, ehrlich und fleißig. Mein Gesetz ist es, meine Jüngeren zu schützen, meine Älteren zu achten, meine Heimat und meine Nation mehr zu lieben als mich selbst. Mein Ideal ist es aufzusteigen, voranzugehen. O großer Atatürk! Ich schwöre, dass ich unaufhaltsam auf dem von dir eröffneten Weg zu dem von dir gezeigten Ziel streben werde. Mein Dasein soll der türkischen Existenz ein Geschenk sein. Wie glücklich derjenige, der sagt ,Ich bin Türke‘!“

Turkishness…

Der Eid wurde bereits 2013 heiß diskutiert und in Frage gestellt. Nun soll er endgültig verboten werden. Die Nationalist*innen/Kemalist*innen zeigen große Empörung, sind schockiert und bringen bereits seit mehreren Tagen ihre Verzweiflung zum Ausdruck. Während das AKP-Regime an den roten Linien vom kemalistisch gefärbten Teil des Paradigmas weiter rüttelt und ihre seit der Republikgründung zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlorene Macht zurück erobert und diese weiter verfestigt und untermauert, zeigen die Nationalist*innen eine überdimensionale Ohnmacht gegenüber den Entwicklungen und damit totales Versagen angesichts ihrer noch lange nicht eingestandenen Niederlage im hiesigen Machtkampf, der zwei Seiten eines Medaillons…

Racism…  

In der Zwischenzeit diktiert Sultan Erdoğan durch seinen eigens nominierten Staatsanwalt, Bekir Şahin den endgültigen Verbot der pro-kurdischen, Demokratische Partei der Völker, HDP. Dabei ist das sogenannte Parlament, die Türkiye Büyük Millet Meclisi, TBMM in Ankara bereits über mehrere Jahre hinweg immer mehr gleichgeschalten worden. Mit dem abermaligen Versuch des Verbots der HDP, unter den günstigeren Rahmenbedingungen des gegenwärtigen AKP-Koalitionsregimes mit der ultra-nationalistischen MHP, möchte sozusagen der endgültige Todesstoß verpasst werden. Die Situation geht zum größten Teil mit verbreiteter Zustimmung einer Bevölkerung einher, die tagtäglich mit rechts-konservativer, ultra-nationalistischer und rassistischer Politpropaganda indoktriniert wird. Die Ohnmacht zeigt sich außerdem in der Alibi-Weiterexistenz eines Parlaments mit sogenannten Oppositionsparteien wie die Republikanische Volkspartei, CHP und dem HDP-Rest, wo das Etat doch seit mehreren Jahren bereits nach dem Diktat des Sultan fungiert und vor den Augen der gemeinen Öffentlichkeit demokratisch gewählte Abgeordnete arrestiert und Mundtot macht. Der Glaube oder Wunsch mancher, dass die Kurd*innen abermals mit der Gründung einer neuen Partei die politische Bühne betreten werden, wie sie dies in den vergangenen Jahrzehnten stets unternommen hatten, scheint dieses Mal den gegebenen Umständen geschuldet, eher getrübt zu sein. Auch die Phantasie, dass mit demokratischen Neuwahlen die Verfestigung des Regimes unterbunden werden könnte, schwindet immer mehr… 

Misogynie…

Zuletzt entschied Sultan Erdoğan in der Nacht vom 19. zum 20. März endgültig den Austritt aus der Istanbul Konvention, dem das Land im Jahre 2011 mit parlamentarischer Mehrheitsentscheidung beigetreten war. Dieser bereits zuvor mehrmals versuchter Schritt passiert in einem Land, in dem offiziellen Zahlen zufolge täglich drei Frauen* ermordet werden. Das Land wird derzeit mit einem äußerst fraglichen Krisenmanagement durch die Covid-Pandemie, der drastisch steigenden Armut, der Vernebelungsaktionen wie der künstlich ausgelösten Diskussion zum Eid und dem sogenannten „gemeinsamen Kampf gegen den Terror“ mittels Schließung der sechs-Millionen Stimmen-starken HDP erstickt. Angesichts dieser Eckpunkte scheinen die Sterne dieses Mal soweit günstig zu stehen, auch die Istanbul Konvention mit einem Gesetzesdekret (Kanun Hükmünde Kararname, KHK) des Sultan ein für allemal für nichtig zu erklären. Der letzte 8. März dürfte das Gemüt des Sultans und der islamischen und islamistischen Gemeinden reichlich provoziert haben. So sind nicht mehr die Farben der kurdischen Flagge: rot, gelb, grün alarmierend für diese Köpfe, sondern auch die Regenbogenfarben der LGBT-IQ überhaupt.

Newroz… 

Der Newroz 2021 bietet eine Gelegenheit, dass die Frauen*, Männer*, Alt und Jung, alle Menschen jeglicher Weltanschauung, die Unterdrückten, Minderheiten, Marginalisierten, Subalternisierten, Ge-otherten, die Mittellosen und in die Armut verdammten sich miteinander solidarisieren, ihre Kräfte vereinigen, die Staats-paradigmatisch top-down definierten Tabus brechen und dieses Mal gemeinsam feiern.

Angesichts der Brutalität des AKP-MHP-Regimes ist die Furcht ums Leben viel zu groß und die Chance der friedlichen Inanspruchnahme demokratischer Rechte, wie z.B. Demonstrations- und Versammlungsrecht ohne Polizeigewalt zu gering, doch wie soll es sonst weitergehen, wenn die Völker, Gruppen und Menschen im Land keine Bereitschaft zum gemeinsamen Widerstand zeigen, das ein Despotenregime in die Schranken weist..? Damit ist keine zweite Gezi-Welle gemeint; die Gezi-Proteste wurden bis heute nicht ausreichend und objektiv reflektiert, doch eines der zentralen Gründe für die Niederlage scheint auch darin zu liegen, dass die Gruppen nicht bis zum Ende durchgehalten haben, manche die Bewegung für die eigenen Zwecke zu vereinnahmen gesucht sowie andere hinter verschlossenen Türen Zugeständnisse und Deals mit dem Regime ausgetauscht haben, sodass sie wieder innerhalb der roten Linien des Staatsparadigmas eingezwängt und letztendlich erstickt wurde. 

Der Theologe Martin Niemöller war zunächst ein begeisterter Anhänger des Dritten Reichs. Seine Gesinnungsänderung kam als bei einem Treffen zwischen ihm Adolf Hitler und anderen es dann darum ging, dass staatlicher Druck auf Kirchen ausgeübt werden sollte. Und weil die Hoffnung zuletzt stirbt, sollte dieser Zitat von Niemöller hoffentlich und allmählich auch die Anhänger*innen des Sultans und seiner gegenwärtigen Mitspieler*innen zum Nachdenken bringen: 

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

20.03.2021, zeynemarslan

 

 

 

 

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