Feministische Praxen im historischen Überblick und die Notwendigkeit der Entwicklung eines neuen kollektiven politischen Subjekts

 

Das „Manifest der Frauenrechte“ vom Jahr 1791 bezeichnet die Geburtsstunde der zunächst weißen, bürgerlichen und der Mittelschicht zugehörigen Frauen(*)bewegungen in Europa. Im Rahmen des Zusammenbruchs der Imperien und Großreiche folgte die Ära der Nationalstaatsbildungen, die sich im Zuge der bürgerlichen Revolution der Franzos(*)innen entwickelten. Der Status des Individuums wurde aufgewertet. Während Menschenrechte für das Individuum gefordert wurden, wurde die weibliche Hälfte der Bevölkerung schlichtweg ignoriert, da sie strukturell nicht als „Menschen“ kategorisiert wurde. Es war Olympe de Gouges (1748-1793), die mit ihrer Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne (1791) erklärte, dass Menschen von Geburt an gleichberechtigt sind und daher die Forderung stellte, in der Verfassung diese Gleichberechtigung auch den weiblichen Mitgliedern der Bevölkerung zuteil werden zu lassen. Diese Forderung musste de Gouges mit ihrer Enthauptung auf der Guillotine durch die Entscheidung des Inquisitionsgerichts der „aufgeklärten”, modernen, bürgerlich-revolutionären französischen Männer bezahlen.

Die modernen und global westlich/nördlich dominierten Frauen(*)bewegungen

Die Geschichte der modernen, global westlich/nördlich dominierten Frauen(*)bewegungen verläuft in „drei Wellen“; die erste Welle ist zeitlich ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zu verorten. Frauen plädierten für das Wahlrecht, das Recht auf Arbeit und Bildung. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die englischen Frauen mit ihrer Bluestockings Society laut.

1848 setzten in den Vereinigten Staaten die Sklav*innenaufstände ein. Hier trat zum ersten Mal das Bewusstsein darüber, dass die Ungleichheit in einem viel größeren Ausmaß gegen die afro-amerikanischen Frauen gerichtet war als gegen weiße Frauen. Im Juli 1848 veröffentlichten Elizabeth Cady Stanton (1815-1902), Lucretia Mott (1793-1880) und Martha Coffin Wright (1806-1875) die Declaration of Sentiments und damit die Forderung der Woman’s Rights Convention.

Die Suffragetten bildeten dann zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine mehr oder minder organisierte Gruppe in Großbritannien und den USA, die sich für ein allgemeines Frauenwahlrecht einsetzten. Es war schließlich Simone de Beauvoir (1908-1986), die sich in ihrem Denken konkret mit der Geschlechterungleichberechtigung auseinandersetzte und erklärte, dass die „Geschichte eine Geschichte der Männer ist“ und daher „verdächtig“ sein muss, da sie [die Männer] „Richter und Partei zugleich sind“.

Bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhunderts fokussierte sich der Kampf der Frauen im globalen Westen auf gleiche Rechte, eine Orientierung, die in der theoretischen Ausrichtung heute „Gleichheitsfeminismus“ genannt wird. Es war Clara Josephine Zetkin (1857-1933), die sich innerhalb der sozialistischen Bewegung um die Gleichberechtigung der Geschlechter bemühte. In diesen Reihen wurde der „Feminismus“, der sich noch in Kinderschuhen befand, zunächst als bürgerlich und elitär gelesen. So wurden die Genossinnen auf die Rolle der „ent-sexualisierte Mitstreiterinnen“ reduziert und die Befreiung der Frauen auf die Zeit nach der sozialistischen Revolution aufgeschoben, mit dem Vermerk, dass der Sozialismus die Geschlechtergleichberechtigung mit sich bringen würde.

Die zweite Welle der modernen Frauen(*)bewegungen ist zeitlich in der Periode ab den 1960ern verortet. Der Aufbruch der Frauen ereignete sich vor dem Hintergrund der 68er Bewegung, des Vietnamkriegs, der Ent-Kolonialisierungen. Die Forderung nach Teilhabe an Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen war zentral. Die Akteur*innen machten sich Gedanken und widmeten sich theoretischen Auseinandersetzungen zu Themen wie Gewalt und Wiedergutmachungsmechanismen. Es waren wieder die afro-amerikanischen Frauen, die sodann einmal mehr den Sexismus, Rassismus und Klassenkampf zusammenfügten und laut argumentierten, dass „das eine ohne das andere nicht bekämpft bzw. gehandhabt werden kann“. Die Ideen der Civil Disobedience, des Consiousness Raising und der Frauenselbstorganisation wurden entwickelt. In dieser Zeit wurde den Frauen klar, dass sie sich, um Gleichheit zu erringen, nicht am Maßstab des männlichen Menschen messend befreien können, sondern es einer eigenen, das heißt, getrennten Selbstorganisation des unterdrückten ge-otherten Geschlechts braucht, um letztendlich Selbstbewusstsein und Selbstermächtigung zu erlangen. Es ging nicht mehr nur darum, dass Frauen dieselben Wege offenstehen sollten wie Männern, sondern darum, als von Männern verschiedene (!) Menschen gleiche (!) Rechte zu erkämpfen – ein Anspruch, der bis heute nirgendwo auf der Welt eingelöst ist.

Entscheidende historische Entwicklungen, definiert und getragen von den Frauen der Zweiten Welle, ebneten den Weg zur Entwicklung der Wahrnehmung von Interdependenzen von sozialen Kategorien. Vor allem afro-amerikanische Autor(*)innen wie Kimberley Crenshaw (1991), Patricia Hill Collins (1990), Alice Walker (1983), bell hooks (1981), Audre Lorde (1984) oder Michelle Wallace (1979) kritisierten, dass in den Frauen(*)bewegungen die „westliche, weiße Mittelschichtsfrau“ als Norm weiblicher Erfahrungen gesehen wurde. Zunächst wiesen diese Autor(*)innen auf die sich überschneidenden sozialen, ökonomischen und kulturellen Bereiche hin, die abwechselnd, manchmal zusammen oder voneinander getrennt, Benachteiligungen erfahren, oder, politischen und zeitlichen, externen und internen Umständen entsprechend, unterschiedlich deutlich hervortreten und sich auswirken.

Die Gründung des Combahee River Collective im Jahre 1974 in Boston gilt als wichtige historische Zäsur (Zilla 1978). Die daran beteiligten Autor(*)innen, die sich als lesbisch, sozialistisch und schwarz definierten, formulierten ihre Aufgabe als einen Einsatz für integrierte Analysen und Praxen, die – unter Berücksichtigung des Systems in seiner Gesamtheit – rassistische, sexistische, heterosexistische und klassen-unterdrückerische Mechanismen in ihrer Verbundenheit und Ineinander-Gewobenheit untersuchen und bekämpfen müssen (ebd). Schließlich waren es Sandra Harding (1989) , Helen Longino (1990)und Donna Haraway (1995), die aus der marxistischen Philosophie des „Das Sein bestimmt das Dasein“ heraus auch erklärten, dass sich Standpunkt und Situiertheit-abhängig, die Kontexte der Unterdrückung und Diskriminierung ändern. Damit zusammenhängend wurde die Idee unterstützt, dass jede einzelne Frau die Expertin ihres eigenen Selbst ist und erst – in der Erkenntnis der Teilhabe und Betroffenheit im Gesamten -, das heißt durch intersubjektive Dialog- und Austauschprozesse die Geschichte der Frauen* geschrieben werden kann. Um blinden Flecken und Verzerrungen der androzentristisch definierten und konstruierten Welt entgegenzuwirken, müssen viele „heterogene Standorte“ und Situierungen in ständiger Selbstreflexion miteinander kommunizieren.

Das Bewusstsein über die Intersektionalität, das sich in den USA in den 1960er Jahren entwickelte, prägte sich in West-Europa erst in den 1970ern klarer heraus, in der Türkei erst in den 1980er Jahren. In der Türkei errangen die Frauen der bürgerlichen Ober- und Mittelschicht – auch im Zuge der Arbeitsmigrationen der grass roots in die Großstädte, allmählich auch ein Bewusstsein über die Existenz anderer Frauen(*)gruppen, die unterschiedlichen konfessionellen, ethnischen sowie sozioökonomischen Hinter- und Vordergründen entstammten.

Später erläuterte die Soziologin und Philosophin Frigga Haug, die die „Frauenunterdrückung in der modernen Welt als untrennbar mit der Geschichte des Kapitalismus“ verbunden sieht, dass „feministische Veränderungen […] die strukturellen Verbindungen zwischen Patriarchat und Kapitalismus anzielen müssen“ (Haug 2010: 52-59). Haug erklärt, dass Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse gefasst werden müssen, innerhalb derer Fragen zu Herrschaft, Ideologie, Politik, Recht, Arbeitsteilung, Religion, Moral, Sexualität, Körper, sogar die Sprache bestimmt werden. (ebd.) Es müssten also die Strukturen und Rahmenbedingungen genau erfasst werden, die die Geschlechterverhältnisse formen.

Es war die Weltfrauenkonferenz 1975, die unter anderem die Intersektionalität und die Intersubjektivität institutionell zu untermauern suchte und die Existenz verschiedener Frauen(*) und Frauen(*)gruppen in ihren heterogenen Strukturen sichtbar machte und verdeutlichte. Viel ist passiert seither, im globalen Norden und Westen konnte die Frauen(*)bewegung mit ihren Rufen „Mein Bauch gehört mir!“ und „Das Private ist politisch!“ das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper, Gewaltschutzgesetze und -einrichtungen ebenso wie die Besetzung von öffentlichen Räumen durch Frauen(*) erkämpfen.

Mit der Ablehnung jeglicher Kategorisierung und der Kritik, dass das System androzentristisch definiert und strukturiert ist, wurden allmählich die Grenzsetzungen zwischen den Geschlechtern hinterfragt und es entwickelte sich ab den 1990er Jahren die Queer-Bewegung, die zunächst, zusammen mit der Postmoderne, irgendwann in einer totalen Absorbierung im bestehenden System zu enden schien. „Queeres Denken“ setzt sich mit Denkformen und Institutionen auseinander, die vereinfachen, binarisieren, hierarchisieren und ausgrenzen. Seine Zielscheibe sind NORMalisierende Praxen und Glaubenssätze rund um Geschlecht, Sexualität und andere NORMalitäten, wobei es wechselseitige Stabilisierungseffekte kritisch beleuchtet.

Moderner, zunächst „staatlich-paternalistisch gefärbter“ Feminismus im Nahen Osten und Maghreb

Der Nahe Osten war Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Zerfall des Osmanischen Imperiums und die Machtübernahme durch die kolonialen Interessen vornehmlich von Akteur(*)innen des globalen Westens zerrissen. In dieser Zeit waren es wieder bürgerliche Frauen, die sich Seite an Seite mit den Männern für die jeweiligen nationalen Befreiungskämpfe einsetzten. Die Frauen, die sich für den freien Nationalstaat einsetzten und sich während dieser Ära mit dem Slogan der Modernisierung in den öffentlichen Raum wagten, wurden danach wieder ins Haus und hinter den Herd gedrängt. Die Jungfräulichkeit wurde als das bedrohte Vaterland symbolisiert, während die herrschende Ideologie die Frauen in ihrer Rolle als Mütter auf ihre Reproduktionsfähigkeit reduzierte und als für die Erziehung des Nachwuchses missionierte Wesen konstruierte. In der Türkei kritisierten die Feministinnen ab den 1980er Jahren die Nationalstaatsideologie des Kemalismus damit, dass dieser die Frauen in Wirklichkeit nicht befreit habe, sondern sie abermals für die eigenen Homogenisierungspraxen im Zuge der Nationalstaatsbildung und Verfestigung von Männerbünden instrumentalisiert hat. Die Modernisierung und Nationalstaatsbildung wurden durch jene Männer forciert, die ihre Ausbildungen im globalen Westen genossen hatten. Sie importierten das Rechtssystem, das Militärwesen, das Bildungssystem, aber auch Vorstellungen von so genannten „westlichen Frauen“. Es waren der Körper und der öffentliche Auftritt oder Nichtauftritt der Frauen, die als Maßstab für die Modernisierung oder die Islamisierung der Nation eingesetzt wurden.

In Tunesien war es der Schriftsteller und Reformer At-Tāhir al-Haddād (1899-1935), der sich im Rahmen des Modernisierungswillens auch für die Rechte der Frauen einsetzte. Später legten die beiden Frauen Manubia Wartari (1924) und Habiba Manshari (1929) ihre Schleier ab und setzten sich gegen die Polygamie ein. Sie gründeten im Jahre 1944 die Union Tunesischer Frauen, welche der Kommunistischen Partei nahestand. Sie beteiligten sich am Kampf gegen den Französischen Kolonialismus und bemühten sich gleichzeitig um die Vereinigung von Frauen aus verschiedenen Hintergründen (inkl. jüdischer und europäischer). Der islamische Modernist und Mitbegründer der Befreiungsbewegung der ägyptischen Nation Qasim Amin (1863-1908) erklärte den Schleier zur „schlimmsten Art der Sklaverei“ und es war Huda Sharaawi (1923), die ihren Schleier ablegte und später die erste feministische Konferenz in Kairo (1944) organisierte. Sie gründete die Union Ägyptischer Feministinnen und setzte sich in Kooperation mit europäischen Feministinnen für die soziale, politische und materielle Unabhängigkeit von Frauen ein. Der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser (1918-1970) galt als Modernist und Reformer im damals größtenteils ländlich und konservativ geprägten Ägypten. Themen und Forderungen, wie z.B. das Wahlrecht, Bildung und Öffentlichkeit für Frauen, wurden zwischen zwei gesellschaftspolitischen Diskursen, dem Revolutionären Sozialismus auf der einen, der Muslimbrüderschaft auf der anderen Seite, hin und her verhandelt. Im Jahre 1967 ereignete sich der Jom Kippur Krieg, in der die Muslimbrüder den Staat Israel zur „Strafe Gottes“ erklärten und zur „Arabischen Einheit“ aufriefen. Damit gab es einen Einschnitt des Fortschritts zu Ungunsten der autoritären Modernisten. Rund um die kolonialen Interessen an Erdöl- und Gasreserven in der Region kam es im Jahre 1982 zu einer Zentrumsverschiebung nach Saudi-Arabien. Aus Sorge vor dem Erstarken des „westlichen“ Einflusses wurden die Frauen der arabischen Welt und des Nahen Ostens mit mehr Unterdrückung und Einschränkung konfrontiert, während die Wirtschaft auf Hochtouren in den Weltmarkt integriert wurde. Diese Entwicklungen zu Ungunsten der Frauen verbreiteten sich in der gesamten Region des Nahen Ostens und des Maghrebs.

In dem Moment, als die Bedeutung der westlichen Frauen(*)bewegungen komplett abzuflachen drohte, da Initiativen aus der zweiten Welle einerseits vom System vereinnahmt, andererseits die Kämpfe zur Erringung der damals formulierten Rechte im Zuge des massiven Erstarkens neoliberaler Politiken verschwanden, wurden die Frauen(*)stimmen aus dem Nahen Osten wieder laut.

Die Erkenntnis, dass „[d]ie Globalisierung, die durch den Kolonialismus initiiert und unter imperialistischen Bedingungen ausgeführt wurde, die Einführung der Kolonien in eine Weltökonomie, in der sie die Position des unterentwickelten Sektors zugewiesen bekamen“, (Varela 1994: 275) zur Folge hatte, förderte ein kontextbezogenes, transdisziplinäres, post-strukturalistisches Denken zu Geschlecht, Rasse und Klasse zutage. Im globalen Westen/Norden wurden De-Konstruktionsansätze und damit die Auseinandersetzung mit den „parasitären Zentren“ und den Marginalisierungs- und Normalisierungsdiskursen, Ein- und Ausschlusspraxen laut.

In einigen Ländern des globalen Südens wird in diesem Zusammenhang der „Feminismus“ als eine Bewegung westlicher und bürgerlicher Mittelschichtsfrauen gesehen und als imperialistisches Produkt des globalen Westens/Nordens abgelehnt, um womöglich damit auch eine Legitimation für den Kampf vor den (auch dank Kolonialismus noch) feudal und patriarchal geprägten Strukturen in den eigenen Lebensräumen zu erringen. Während die islamistischen Mächte auch im Zusammenhang mit neo-kolonialistischen Dependenzmechanismen die Überhand gewannen, verbinden sich die Frauen(*)bewegungen des Nahen Ostens, Afrikas und Asiens heute mit einem kritischen Post-Kolonialismus. Der Kampf der verschiedenen Frauen(*)gruppen in diesen geographischen Regionen ist in erster Linie – als ein von westlichen Einflüssen unabhängiger – gegen das Patriarchat gerichtet, das als eine in den Gesellschaften der Regionen tief verankerte und verwurzelte „genetische Kodierung“ interpretiert wird. Im Rahmen von Staaten, in denen der Islam politisch und juristisch herrscht, beziehen sich die meisten der lokalen Frauenbewegungen auf den Koran als Hauptquelle, womit sie das patriarchale Interpretationsmonopol sowie die männliche Deutungshoheit zu durchbrechen und im Sinne der Modernisierung und des Fortschritts die Frauen inkludierend zu befreien suchen. Die Theoretikerin des islamischen Feminismus Margot Badran erklärt:

„Der islamische Feminismus argumentiert, dass der im Koran enthaltene Grundsatz der Gleichstellung zwischen Männern und Frauen (wie auch von anderen Kategorien von Personen) durch patriarchale Ideen (Ideologie) und Praktiken behindert oder unterlaufen worden ist“.

Die Frauenrechtlerinnen des Nahen Osten unterscheiden sich im Heranziehen bestimmter islamischer Quellen, aber auch in den gesellschafts-politischen Forderungen und Zielen ihrer Bewegungen. Die islamischen Feministinnen beziehen sich auf die Argumentationen und Lehren im Islam und begründen sich damit. Sie plädieren für die völlige Gleichberechtigung der Geschlechter sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum. Dabei bezeichnen sie sich selbst nicht immer als praktizierende und bekennende Musliminnen und beziehen Nichtmusliminnen in ihre Tätigkeiten und ihr Engagement mit ein. Im Gegensatz zu den islamischen Feministinnen bekennen sich die muslimischen Feministinnen zu ihrem Glauben und benutzen manchmal auch Argumente von außerhalb des Islam. Der muslimische Feminismus, der in Malaysia entstanden ist, bezieht sich zeitweise auf die Menschenrechte, auf die internationalen Vereinbarungen und das säkulare Recht. Anfang der Millenniumswende erklärten sie in ihrer Kritik am marokkanischen Familienrecht (1959), dass das Justizsystem korrupt sei und die Männer immer einen Weg finden würden, um polygam zu bleiben, weshalb es nicht ausreichend sei, die religiösen Schriften zu re-interpretieren, sondern die Änderung und Demokratisierung von Verhaltensweisen forciert werden müssten. Als dritte Gruppe gibt es die Islamistinnen, die Vertreterinnen des politischen Islam sind und sich darum bemühen, in Besinnung auf den Koran und die Hadithe das Kalifat einzuführen. Diese Strömung setzt sich für die Gleichberechtigung im öffentlichen Raum ein, doch lehnt sie die Gleichbehandlung in der Privatsphäre ab und bejaht die traditionell, patriarchal geprägten Geschlechterrollen.

Zusammenfassend…

Während sich die Frauen(*)gruppen des globalen Südens von den Erfahrungen und Erkenntnissen der Schwestern aus dem globalen Westen/Norden zu lernen berufen fühlen, wenn es um Initiativen zur Erringung jener Rechte geht, die im globalen Westen/Norden weitestgehend zur Selbstverständlichkeit geworden sind, formieren sie kontextbedingt ihre eigenen, anderen Praxen. Nicht weniger spannend sind die Entwicklungen im globalen Westen/Norden, in der die errungenen und erkämpften sozialen und politischen Rechte im Zuge des Erstarkens neoliberaler Politiken bedroht sind und Kürzungen und Revisionen erfahren.

Der jeweilige Standpunkt und die je spezifischen Situierungen zeigen sich unterschiedlich in den Erfahrungen der Frauen(*)bewegungen, was einen Austausch und eine Kooperation zur gegenseitigen Stärkung vonnöten macht. Es sind die neoliberalen Strukturen, die weltweit einen geballten Angriff auf die sozialen Errungenschaften der Frauen(*)Kämpfe der letzten Dekaden vollziehen. Gegen diese Angriffe braucht es die Bildung einer organisierten geeinten Kraft, unter Rückbesinnung auf die Idee der afro-amerikanischen Schwestern von 1968 und danach weiter der Women of Color, die Idee der sisterhood, mit der sie auf die Notwendigkeit der Solidarisierung und Kooperation von Frauen gegen hierarchisierende und ausbeuterische Verhältnisse hinweisen, die durch die Kategorien Ethnie, Konfession, Klasse und Gender strukturiert sind.

Viele Schwestern, die in die Machtzentren gelangen, werden „maskulin“ und vom bestehenden System absorbiert, sodass sie letztendlich oft als verlängerte Arme dieser fungieren (siehe Konzept des token victims bei Gayatri Chakravorty Spivak). Die Weltfrauenkonferenz von 1975 forderte die Machtteilhabe von Frauen, doch stattdessen wurden in den folgenden Jahren Selbst-/Marginalisierungspraxen von bzw. gegenüber Frauen(*) wirksam. Damit blieben kritisierte Strukturen der Macht- und Interessensverhältnisse weitestgehend stabil und die thematisierte Solidarisierung der Welt-Frauen(*)gemeinschaft aus. Es waren dann Namen wie Chandra Talpade Mohanty und Gayatri Chakravorty Spivak, die sich mit Fragen zu den Third World feminisms näher befassten.

Die Weltwirtschaft ist interdependenter, ineinander verwobener und voneinander abhängiger denn je. Angesichts der sich rasant entwickelnden Informationstechnologien und der damit zusammenhängenden Ausweitung der Möglichkeiten und Instrumente der Manipulation haben sich die Achsen und Dimensionen der Macht verschoben und verstärkt. Die Dimensionen und Ausmaße des Kapitalismus haben sich ausgeweitet, sodass periphere und oppositionelle Abweichungen in den Zentren der Macht meist absorbiert werden. Viele NGOs und Alternativbewegungen fungieren technokratisch als verlängerte Arme von Staaten. Erneut bedient man sich bewährter Ausschließungs- und Einschließungspraxen und Polarisierungen entlang religiöser Identitäten, sodass wir heute Zeug*innen einer Re-Religionisierung der Weltgesellschaft werden, bei gleichzeitigem Erstarken des Neoliberalismus.

2001 interviewten Christoph Cox und Molly Whalen den Philosophen und Aktivisten Alain Badiou zu seinem 1993 erschienen Buch „Ethics: An Essay on the Understanding of Evil“ (Badiou 2001). In diesem Interview erklärt Badiou, dass die Gewalt verschiedene Formen hat, eine im globalen Norden/Westen eine „zivilisiertere“ annimmt, während sie sich z.B. im Nahen Osten in ihrer harten Nacktheit zeigt, doch brutal sind beide. (Badiou 2001) Das Ausmaß der Brutalität wird einmal mehr deutlich, wenn die Menschen im globalen Norden/Westen „glauben, dass sie frei sind“ und sich damit in einem Rausch wiederfinden, aus dem (scheinbar) kein Weg hinausführt, wodurch die Welt alternativlos erscheint.

Der Schriftsteller und Theoretiker Mark Fisher schreibt in seinem Buch „kapitalistischer realismus ohne alternative?“, dass die Grenzen des Kapitalismus nicht per Anordnung fixiert sind, sondern pragmatisch und improvisatorisch definiert (und re-definiert) werden. So erinnert der Kapitalismus ein wenig an […] eine monströse, unendlich formbare Entität, die fähig ist, alles zu absorbieren und zu verdauen, mit dem sie in Kontakt kommt.“ (Fisher 2017: 12-13)

Festzustellen ist also eine Re-Religionisierung bzw. (eine auf kultureller und ethnischer Basis definierte) Re-Nationalisierung als Reaktion auf den entgrenzten Kapitalismus, wobei sich beide im Endeffekt wechselseitig stärken. Beide funktionieren gut zusammen und stützen einander, denn beide bauen auf Hierarchie, Macht, Ausbeutung, aber auch auf Fragmentierung, Entsolidarisierung und identitärer Abgrenzung auf.

Im letzten Jahr wurde die Weltöffentlichkeit Zeugin sozialer Aufstände im Nahen Osten, in Asien und in den Staaten Lateinamerikas. Der Las Tesis Tanz, der von den lateinamerikanischen Frauen* ins Leben gerufen wurde, zog sich durch die Welt und die Frauen* der Welt riefen mit geeinter Stimme und in allen Sprachen, die es gibt: der Vergewaltiger bist du! Schuld bist du! Und ratterten einmal mehr die ihnen angelegten Ketten der Unterdrückung und brachten die Welt ins Wanken.

Es ist deutlich, dass die Menschen eine Veränderung möchten und sie gehen auf die Straße. In den Staaten, in denen Menschen nichts mehr zu verlieren haben, ist die Organisierung radikaler Protestaktionen leichter möglich als in jenen, in denen noch (!) ein gewisser Wohlstand vorhanden ist und daher Verlust- bzw. Abstiegsängste leichter geschürt werden können. Doch auch da ist Veränderung gewünscht und eines muss klar sein: Keine Veränderung ist schmerzlos. Denker und Schriftsteller Aydın Çubukçu erklärt, dass die Revolution sich ihren Weg sucht. Während die Geschichte immer mehr Bühne für diverse soziale Aufstände wird, die sich gegenwärtig in einer Richtung- und Profilsuche befinden, setzt das kapitalistische System der organisierten Systemträger*innen weiterhin Fragmentierung, Hierarchie- und Machtasymmetrien ein, um sein eigenes Überleben zu sichern. Damit wird die Welt gegenwärtig mit Re-Nationalisierung und Re-Religionisierung beschäftigt und von den dringend notwendigen globalen und sozialen Umverteilungskämpfen abgelenkt.

Ähnlich wie Deleuze und Guattari (1977) argumentiert auch Mark Fisher (2017), dass der Neokonservatismus und der Neoliberalismus zusammenarbeiten (S. 72) und, dass die Menschen* im Neoliberalismus mehr als Konsument(*)innen funktionieren denn als Bürger(*)innen. Er verbindet seine Analyse mit einem Appell:

„Die Beschwörung des Gedankens, dass »es keine Alternative gibt« und die Empfehlung, »smarter, nicht härter« zu arbeiten, zeigt wie der kapitalistische Realismus den Umgangston für Arbeitskämpfe im Postfordismus setzt. Das Regime der Inspektionen zu beenden, scheint unmöglicher als der Sklaverei zu entkommen, wie ein Dozent einmal sarkastisch anmerkte. Ein solcher Fatalismus kann nur bekämpft werden, wenn ein neues (kollektives) politisches Subjekt entsteht“. (S. 64)

Der Neoliberalismus ist eine Folge der logischen Entwicklung des Kapitalismus und der kapitalistischen Weltökonomie. Jede Bewegung, die auf Solidarität, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit; auf Menschenrechte aufbaut, spricht eine andere Sprache. Rückbesinnend auf die Idee von Simone de Beauvoir, die erklärte, dass die Geschichte aus Patriarchenhand gefasst ist und der Vorstellung Gayatri Chakravorty Spivaks, die erklärte, dass die Sprache die Diskurse und damit eine Welt schafft (erinnert sei nur an ihre wunderbare Wortschöpfung worldling), ist die Sprache des Kapitalismus eine maskuline. Eine Sprache, die nicht aus Gründen der Machtsicherung die Dominanz einiger weniger über jene, die sich in den „unteren“ Bereichen der Hierarchie befinden, ausspielt, konnte noch nicht entwickelt werden. Dieser Mission scheinen aber die Frauen(*) aus den Erfahrungen ihrer Geschichte heraus näher zu stehen denn je …

Damit ist die Idee der Konferenz, dass die sozialen Bewegungen, aber vor allem die Frauen selbst, aus der Historie und den Praxen der Frauen(*)bewegungen lernen können. Die Geschichte der Frauen(*)bewegungen zeigt, dass es wichtig ist, dabei den Intersektionalitätsansatz zu verfolgen. In diesem Rahmen werden die Differenzen unter Frauen(*) anerkannt und eine sich der Hegemonie und daraus resultierenden Ungleichheiten bewusste Sprache und erkanntes Handeln können im gemeinsamen Dialog gestärkt und manifestiert werden. So kann von allen teilnehmenden Frauen ein gemeinsamer Weg gesucht werden, auf dem unser Interesse an einer Welt im Fokus liegt, in der Menschen in Gleichberechtigung und im Einklang mit der Natur gemeinsame Lebensräume miteinander teilen können. Es ist Zeit, dass Frauen(*)bewegungen die Bildung von Solidarisierungsachsen im Sinne der Entwicklung eines neuen kollektiven politischen Subjekts tatkräftig und systematisch zu leben beginnen. Es geht nämlich nicht mehr nur darum im bestehenden Haus ein paar Wände zu verschieben, neue Fenster, Fassaden und Fließen zu legen. Es geht heute immer mehr darum, dieses Haus komplett wegzureißen und von Grund auf neu zu bauen, mit Räumen für soziale, ökologische, feministische und gleichberechtigte Ko-/oder Pluri-existenzen…

zeynemarslan.

17.02.2020

Vielen herzlichen Dank für die Korrekturlesung durch Hilde Grammel.

Für eine detaillierte Information siehe: Arslan, Zeynep (2018): Demokratisierung durch Selbstermächtigung. Empowerment Alevitischer Frauen* in der Türkei und in der Diaspora. In der Reihe: Anwendungsorientierte Religionswissenschaft. Beiträge zu gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen. Band 6. Ulrike Bechmann und Wolfram Reiss (Hg.). Tectum Verlag.

 

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