Die Türkei bespitzelt in Europa – Interview mit Soziologen und Politikberater Kenan Doğan Güngör

 

Kenan Doğan Güngör verkündete zunächst über seinen Social Media Account, dass seitens der Türkei zwei Haftbefehle gegen seine Person anstehen. Diese Meldung stieß auf große Aufmerksamkeit der Medien. Güngör ist damit einer von vielen Hunderten im Land ist, die vor der grenzüberschreitenden Zensurierung der Meinungsfreiheit durch die Türkei nicht mehr sicher sind.

Kenan Doğan Güngör was ist der letzte Stand seit Ihrer Verkündung über zwei Haftbefehle der Türkei gegen Sie?

Es war überhaupt schwierig herauszubekommen, ob man gesucht wird. Der Anwalt kann das nur bei der Staatsanwaltschaft anfragen, die wiederum nach Provinzen organisiert sind. Bei mir hat sich dann herausgestellt, dass es bei mir zwei Verfahren in [der westtürkischen Provinz] Balıkesir gibt. Es ist herausgekommen, dass ich einmal wegen „Beleidigung des Präsidenten“ und einmal wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ angeschuldigt werde. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft wissen wir nun, dass gegen mich nur noch eine Anschuldigung, nämlich „Propaganda für eine Terrororganisation“ aufrecht ist. Es ist ungewöhnlich, dass ein Verfahren einfach so wegfällt. Das könnte daran liegen, dass der politische Druck so war, dass das „Banale“ weggelassen wurde, denn „Erdoğan-Beleidigung“ ist mittlerweile peinlich (Anm. Es laufen derzeit 160.000 Verfahren wegen Beleidigung des Präsidenten), das wäre vielleicht eine Erklärung. Mein Anwalt und ich bleiben dran.

In einem Ihrer Interviews berichten Sie von einer Spitzel-App. Wie funktioniert diese App?

Die Spitzel-App „EGM-Mobil“ ist eine Applikation, die niederschwellig und sehr einfach über die App-Stores von Google oder Appel runtergeladen werden können. Genauso die Telefonnummer 140 oder 150 sind Möglichkeiten, die einen sehr Kund*innen- und Bedienungs-freundlichen Service anbieten, wo man auch Menschen melden bzw. denunzieren kann. Man kann also für das türkische Innenministerium und der Polizei sehr einfach Fotos und Videos hochladen und Namen bekanntgeben, die in der Türkei zentral ausgewertet – und entsprechende Verfahren eingeleitet – werden. Nach 2016 hat sich die Bespitzelung nochmals ausgeweitet und wird nicht mehr nur von Amtsleuten und Beamten, sondern sehr offensiv von Menschen unternommen, die proaktiv für ihr „Vaterland“ bespitzeln.

Wie können wir uns die Spitzelarbeit vorstellen?

Das ist ein Bündel von Maßnahmen, die über eine Troll-Armee über die türkische Staatsanwaltschaft mit der Polizei zusammenarbeitet, um aktiv in der Social Media und in den allgemeinen Medien nach Regime-kritischen Meldungen zu suchen. Das ist eine bewusste Entscheidung, das seit dem Putschversuch von 2016 noch stärker eingesetzt wird. Neben der Propaganda für die PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und die Gülen-Bewegung, die gemeint sind, sind auch ganze oppositionelle und kritische Stimmen mit gemeint, die sich in der Diaspora nicht mehr sicher fühlen sollen. Es gibt außerdem das „Präsidium für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften“, die auch eine sehr zentrale Rolle bei der Bespitzelung in der Diaspora spielt. Jahrzehntelang hatten die Türkei-stämmigen Migrant*innen keine so große Bedeutung wie dies seit Erdoğan der Fall ist. Wichtig anzuführen, ist, dass die Bespitzelung bisher immer gegen marginalisierte und oppositionelle Gruppen, wie z.B. Linke und kurdische Gruppen eingesetzt wurde und die konservativen und rechten Eliten der Türkei davon relativ ausgenommen und geschützt waren. Seit dem Putsch herrscht innerhalb des rechten Systems auf einmal massives Misstrauen gegeneinander und sie beschuldigen sich gegenseitig als sogenannte „Krypto-Gülenisten“, wodurch das Spitzelwesen selbst inmitten der Reihen der Regierungspartei, AKP breite Anwendung findet.

Dass jetzt vom österreichischen Bundeskanzler, bis zum Außenminister und Wiener Bürgermeister alle in die Türkei gegangen sind, um Erdoğan zu hofieren, ohne Evidenz und Grund – außer, dass man im Zusammenhang mit der Ukraine vielleicht ein gutes Spiel mit der Türkei haben wollte, ist bedenklich und enttäuschend.

Welcher konkreten Aufgabe sehen Sie sich als Person des öffentlichen Lebens gestellt, wenn wegen Meinungsäußerung auch gegen Sie Haftbefehle seitens Türkei erfolgen?

Ich gehe eigentlich sehr ungern mit persönlichen Angelegenheiten als mit meiner Profession in die Öffentlichkeit. Doch wenn man sieht, was in Österreich politisch passiert, dass von einer zum Teil auch populistischen „Anti-Erdoğan-Position” plötzlich in einen komischen Kuschelkurs kippt, dann ist das auch ein Zeichen, dass eine weitsichtige, fundierte, werte- und interessengeleitete außenpolitischen Grundhaltung fehlt und kurzfristige Stimmungen und Interessen hier eine Rolle spielen. Eine Verbesserung und Annäherung zwischen der Türkei und der EU und damit auch Österreich würde ich mir sicherlich wünschen, doch das geht nur, wenn es in der Türkei auch demokratiepolitische und menschenrechtliche Verbesserungen zu beobachten sind. Leider ist Gegenteiliges der Fall. Dass jetzt vom österreichischen Bundeskanzler, bis zum Außenminister und Wiener Bürgermeister alle in die Türkei gegangen sind, um Erdoğan zu hofieren, ohne Evidenz und Grund – außer, dass man im Zusammenhang mit der Ukraine vielleicht ein gutes Spiel mit der Türkei haben wollte, ist bedenklich und enttäuschend. Die vorauseilende Hofhudelei Erdoğans ohne Not und Grund war mit ein Grund für mich mit meinem Fall öffentlich auf die Missstände hinzuweisen. Das schulde ich auch jenen Menschen, die zwar diese Öffentlichkeit nicht haben, aber vielfach viel härter betroffen sind als ich.

Was meinen Sie konkret mit „grundsätzlichen Missverständnissen“?

Wir müssen in Europa erkennen, dass wir zwar auf unsere Grundrechte und Meinungsfreiheit stolz sind, diese aber de facto vor einem Teil der Bevölkerung nicht gewährleisten können. Die Zensur in der Türkei geht über ihre Grenzen heraus und untergräbt in Teilen, die freiheitliche, rechtsstaatliche Integrität der EU und auch Österreichs. Alleine das muss uns klar werden, dass das eigentlich nicht mit den demokratischen Freiheiten und den Grundlinien eines Rechtsstaats vereinbar ist. Das ist eine Frage der Außenpolitik und Innenpolitik zugleich. Es darf nicht akzeptabel sein, dass Menschen in ihrem Grundrecht der freien Meinungsäußerung eingeschränkt werden, doch die Regierenden nehmen das verärgert und achselzuckend in Kauf. Das finde ich sehr bedenklich.

Wie finden Sie sind diese kurzfristigen Erdoğan-Besuche aus Sicht der österreichischen Politik zu interpretieren?

Österreich ist eines der Länder gewesen, die auf der EU-Ebene eine zugespitzte Position gegen die Türkei verfolgt hat. Die Außenpolitik war unter Sebastian Kurz (ehem. Bundeskanzler) sehr Türkei-kritisch und man muss sagen, dass Erdoğan massiv an der Zuspitzung gearbeitet hat. Das kam der österreichischen Regierung zugute, die mit dieser Türkei-skeptischen Haltung Punkte sammeln konnten. Ich glaube, dass mit dem Wegfall der Kurz-Mannschaft eine paradigmatische Neuorientierung stattfindet; man möchte sich ins alte außenpolitische Fahrwasser zurückbewegen und Richtung Pragmatismus und Kooperation positionieren. Das kann man ja grundsätzlich begrüßen. Im Hintergrund der Ukraine und der Energie- wie auch Getreidekrise, wo die Türkei das außenpolitisch sehr gut genutzt und jetzt eine Schlüsselrolle eingenommen hat, kann ein Argument dafür sein, dass wir jetzt für unsere Interessen in Kontakt treten müssen ohne unsere demokratiepolitischen und menschenrechtlichen Werte mit Füßen zu treten.

Es ist politisch falsch und es ist auch institutionell eine völlige Überschätzung der eigenen Gewichtigkeit.

©APA/BÜRO MICHAEL LUDWIG/TÜRKISCHE PRÄSIDENTSCHAFTSKANZLEI

Können Sie das näher ausführen?     

Es muss versucht werden eine angemessene Balance zwischen den mittel- und langfristigen Interessen und einer demokratie- und menschenrechtlich geleiteten Außenpolitik zu finden. Das ist nicht immer einfach und sehr oft entstehen Spannungsverhältnisse. Doch diese löst man nicht, indem man den wertegeleiteten Pol einfach beiseiteschiebt. Das untergräbt unsere Glaubwürdigkeit nach innen und außen und lässt alle, die für diese Werte kämpfen im Stich. Wenn man sich die letzten zehn Jahre anschaut, sieht man, dass die Türkei unter Erdoğan in einen expansiven, neo-osmanisch-hegemonialen Machtanspruch erhebt und dabei Europa in ihrer Entmutigtheit vorführt und ihnen Doppelzüngigkeit unverhohlen vorwirft, was die Europäer im Sinne der Diplomatie immer geschluckt haben. Was sind demokratische Werte, wenn man nicht dafür einsteht und vertritt?

Ganz problematisch fand ich den Besuch des Bürgermeisters von Wien, der sich in seinem Türkeibesuch nur in einem exklusiven AKP-Netzwerk von Bürgermeister*innen bewegt und lobpreisend bei Erdoğan vorstellig wird. Es hätte ihm als sozialdemokratischer Bürgermeister*innen einer Menschenrechtsstadt viel eher angestanden, wenigstens auch die sozialdemokratischen wie auch pro-kurdischen Bürgermeister zu besuchen, die unter dem AKP-Machtapparat mit allen Mitteln bekämpft oder festgenommen werden. Es ist politisch falsch und es ist auch institutionell eine völlige Überschätzung der eigenen Gewichtigkeit. Ich weiß, dass viele Sozialdemokrat*innen darüber den Kopf geschüttelt haben, aber sich nicht trauen es öffentlich zu kritisieren.

Können Sie an dieser Stelle präziser auf die Beweggründe des sozialdemokratischen Wiener Bürgermeisters eingehen?

Wir wissen, dass die SPÖ (Sozialdemokratische Partei) bei den letzten Gemeinderatswahlen keine Stimmen in Richtung der Migrant*innenpartei, SÖZ (Sozial Österreich Zukunft) verlieren wollte. Es kam zur fatalen Allianz, dass man sich mit der UETD (Union Internationaler Demokraten, ist eine Lobby-Organisation der türkischen Regierungspartei AKP in Europa) gegen die SÖZ kompanisiert hat. Die türkischstämmige Bürgermeisterreferentin, die dann die meisten Vorzugsstimmen bekommen hat, war der Erfolg aus dieser Kooperation mit der UETD gegen die SÖZ. Ich habe den Eindruck, dass der Erdoğan-Besuch Ludwigs als ein symbolischer Wink an die AKP Wähler*innenschaft dienen sollte. Es wollte also eine Zielgruppenpolitik betrieben werden und den AKP-nahen Türkei-stämmigen zeigen: „Ich bin kein Freund von euch“ – es scheint mir aber politisch nicht durchdacht. Es war dann auch eine Zittermeldung, um den möglichen Schaden bei der restlichen Wähler*innenschaft eher klein zu halten, sodass wir bis heute nicht wissen, was da eigentlich politisch besprochen bzw. verhandelt worden ist. Es sollte also de facto die Zielgruppe bedient werden, doch für diese 0,5 oder 1 Prozent, das von dort kommt, ist der Preis viel zu hoch, um hier beim Kernklientel Stimmen zu verlieren, die das natürlich nicht gutieren.

Was meinen Sie was dieser Schritt des Bürgermeisters einer deklarierten Menschenrechtsstadt bei den Kernwähler*innen und den SPÖ-nahen Gruppen ausgelöst hat?

Das ist eine Enttäuschung seiner eigenen Kernwähler*innen, bei denen das sicher nicht positiv angekommen ist. Die Gruppe der Linken und kurdischen Türkei-stämmigen und Oppositionellen, die zu einem sehr großen Teil der SPÖ nahestanden, fühlen sich „im Stich gelassen“ und da spreche ich auch von den CHP (Republikanische Volkspartei; größte AKP Oppositionspartei in der Türkei)-nahen SPÖ-Anhängern. Man fühlt sich enttäuscht aber auch entmutigt.

Wie sehen Sie die Konsequenzen für die SPÖ angesichts dessen, dass Sie neben Institutionen auch mit politischen Parteien zusammenarbeiten?  

Als jemand, der auch Parteien berät, muss ich sagen, dass jede Partei an die Macht kommen möchte und sie dafür Mehrheiten und Kompromisse brauchen. Jede Volkspartei hat das Problem, dass sie sehr unterschiedliche Flügel von rechts nach links, von religiös bis anti-religiös, wirtschaftsliberal etc. haben und die Kunst besteht darin sie alle zusammen zu halten. Das kann manchmal zu einer widersprüchlichen Zielgruppenpolitik führen. In diesem Fall aber glaube ich, dass sich das auch machtpolitisch nicht auszahlt, weil man damit einen Großteil der sozialdemokratischen Basis vor den Kopf stößt. Denn es geht um Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit in der SPÖ. Zudem gibt es eine starke Abwendung von der AKP, die es bei den nächsten türkischen Wahlen, sofern sie halbwegs demokratisch verlaufen, in dieser Form nicht mehr geben wird. Da muss man schauen, ob perspektivisch auch klug gehandelt wurde.

Was können Sie in diesem Zusammenhang zur Position der politischen Linken sagen?

Das Dilemma der türkischen Linken ist, dass sie zwar den Sozialdemokrat*innen und Grünen politisch deutlich näherstehen als das nationalistisch-religiöse Lager, aber sehr stark an Basis verloren haben und daher wahlpolitisch eine geringere Rolle spielen. In den 1960er, 70er und 80er Jahren hatte die Linke noch eine große Basis als Anhänger*innenschaft. Insofern war sie auch für die Politik interessant, weil sie hier doch eine bestimmte Wähler*innenschaft adressieren konnte. In den letzten 30 Jahren bekam das nationalistisch-religiöse Lager einen stärkeren Zulauf. Obwohl sie rechts-konservativ sind, wählten sie aus pragmatisch-opportunistischen Gründen hier die Sozialdemokratie, weil sie als Migrant*innen-freundlicher gilt. Sie wählen hier links, ohne links zu sein und in der Türkei aber dafür rechts. Die Sozialdemokrat*innen wollen ihre Stimmen des religiös-konservativen, nationalistischen Lagers. Das führt dazu, dass sie auch die Interessen dieses Spektrums berücksichtigen müssen, obwohl es ihren politischen Überzeugungen zum Teil diametral entgegensteht. Das sind die verschiedenen Facetten des Trilemmas, in der sich die Türkei-stämmigen konservativ Rechten, die türkisch-kurdische Linke und die hiesige Sozialdemokratie befinden.

Es kann nicht sein, dass in einem freiheitlichen Rechtsstaat, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit durch die Türkei unterminiert wird.

Was können Sie den Betroffenen für den Umgang mit der Situation empfehlen?

Politisch ist es entscheidend, dass versucht wird mit den prodemokratischen Bewegungen in der Türkei in Kontakt und Dialog zu treten. Zudem müssen die Spitzel-Apps wie auch das Bespitzelungswesen, in der die türkische Botschaft als eine zentrale Drehscheibe fungiert, unterbunden werden. Dafür gibt es Wege und wir haben gerade mit Ukraine gesehen, wie schnell es möglich war, dass auf einmal die russischen Medien keine Sendemöglichkeiten mehr hatten. Mir ist es wichtig, dass diese Missstände zumindest über meine Person einen gesellschaftspolitischen Wert kriegen. Es gibt mittlerweile zwei parlamentarische Anfragen der NEOS in Richtung des Außen- und Innenministeriums und ich hoffe, dass sich da etwas politisch bewegt, damit der Bespitzelung, Zensur und Verfolgung von regimekritischen Stimmen in Österreich endlich ein Riegel vorgeschoben wird. Es kann nicht sein, dass in einem freiheitlichen Rechtsstaat, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit durch die Türkei unterminiert wird.

zeynemarslan, 09.09.2022 

Veröffentlicht in Yeni Hayat/Neues Leben (YH/NL), am 9. September 2022: https://yenihayat.de/die-tuerkei-bespitzelt-in-europa/

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