Wie erleben die Menschen die hohe Inflation in der Türkei? – Interview mit Ökonom İlhan Döğüş

 

Zeynep Arslan: In der Türkei wurde der Mindestlohn zuletzt auf 8.506 TL (506 Euro) festgelegt. Was bedeutet dieses Ergebnis für die Beschäftigten im Land?  

İlhan Döğüş: Die Armutsgrenze p.P. liegt bei 10.170 TL und die Hungergrenze liegt bei 7.425 TL. Damit ist der Mindestlohn nicht nur zu niedrig, sondern auch absurd. Es ist v.a. die Inflation auf die Lebensmittel zu hoch, die man mit einem Durchschnittswert und ohne die Berücksichtigung auf die Mindestlohnempfänger*innen nicht berechnen kann, zumal hier die Inflation bis zu 200 Prozent zu spüren ist. Die Menschen müssen ihr ganzes Geld fast zur Gänze für diese Grundnahrungsmittel, Energie- und Mietkosten ausgeben.

Die Angaben zur Höhe der Inflation variieren sehr stark voneinander. Wie sind die Zahlen Ihrer Meinung nach zu lesen?

Das Statistische Amt der Türkei (TÜIK) macht eine Angabe von 102 Prozent, während die Inflations-Forschungsgruppe unabhängiger Akademiker*innen (ENAG) von bis zu 200 Prozent spricht. Ich halte keine dieser Angaben für verlässlich. Die Reichweite bzgl. Warenkorb ist immer unterschiedlich. Meiner Einschätzung zufolge liegt die durchschnittliche und bereinigte Inflation irgendwo zwischen 100 und 200 Prozent.  

Für die Menschen im westeuropäischen Raum, die auch mit einer sehr lange nicht mehr dagewesenen Inflation zu ringen haben, sind die Dimensionen in der Türkei geradezu unvorstellbar. Wie können die Menschen Ihrer Meinung nach diesen wirtschaftlichen Druck so lange aushalten?

Ich denke, dass es nicht einmal mehr irgendwelche unerfüllten Versprechen seitens der Staatsführung gibt, für die es sich lohnen würde, auf die Straße zu gehen, zumal der politische Repressionsapparat dermaßen gesteigert ist. Die letzte Hoffnung und Vorstellungskraft auf eine Verbesserung sind verloren. Außerdem sitzen diejenigen, die auf die Straßen gegangen sind heute entweder in den türkischen Gefängnissen oder sind längst im Exil.

Auch viele Türkei-stämmigen in der Diaspora sind vom Bau der vielen Brücken, Autobahnen und Schnellstraßen beeindruckt sowie sie vom außenpolitischen Auftritt vom Erdoğan z.B. im Ukrainekrieg geradezu überwältigt sind. Erdoğan hat nach wie vor eine beachtliche Basis. Worauf ist das Ihrer Meinung nach zurückzuführen?

Die türkische Bevölkerung möchte gerne als Teil des globalen Westens und modern gelten. Gleichzeitig sieht sie den Westen als „Feind, der die Türkei spalten und zerteilen will“. Damit inszeniert sich Erdoğan als “Vater der Nation” schlechthin, womit er die Nation gegen die westlichen Imperialisten zu verteidigen vermocht. Die Autobahnen, Brücken und Schnellstraßen stehen in diesem Kontext nach wie vor im Zeichen der Modernisierungsidee, die es im Rahmen des Nationalstaatsbildungsprozesses seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt. Womit sich die “autoritäre Entwicklung im Land” mit der Idee quasi: “Wir sind auch entwickelt” geradezu stützt. Gestützt in dem Sinn, dass die autoritäre Entwicklung als eine Notwendigkeit, die zur Durchsetzung dieser Modernisierung; konkret: Konkurrenzfähigkeit zum globalen Westen gesehen wird. Insbesondere die Gastarbeiter*innen z.B. in Deutschland, die als Migrant*innen Diskriminierung und Ausschlusspraxen erfahren, scheinen sich von dieser Erzählung sehr beeindrucken zu lassen.  

2002 wurden die Strukturanpassungsprogramme von der Weltbank in der Türkei gestartet und die sogenannte Opposition, das „Wahlbündnis der Nationen“ möchte das verändern. Wie genau soll das aus deren Sicht passieren?

Die Bevölkerungszusammensetzung in der Türkei ist in vielen Hinsichten sehr heterogen und die Ungleichheit ist groß. Auch die AKP konnte in seiner 20-jährigen Regierungszeit diese Dispute nicht besänftigen und die Polarisierung sowie die Ungleichheit ist stärker geworden. Dennoch schafft es diese Partei seit Jahren mindestens über 40 Prozent der Wähler*innenstimmen zu kriegen, was eine spannende Forschungsfrage ist. Das Strukturanpassungsprogramm der Weltbank für die Türkei ist definitiv neoliberal und meiner Meinung nach verantwortlich für die gegenwärtige wirtschaftliche Lage im Land. Das Programm wurde vom Ökonom Kemal Derviş eingeführt und vom ehem. Wirtschaftsminister Ali Babacan fortgesetzt. Der Letztere sitzt heute wie mindestens drei weitere Absplitterparteien der AKPs beim sog. „Sechser-Tisch“ (Wahlbündnis der Nation) und möchte als ursprünglicher Verursacher vor der Bevölkerung glaubhaft machen, dass er es besser machen wird. Sie haben damals die Zinsenrate in der Türkei höher gehalten als viele westlichen Länder und damit die TL überbewertet. Damals war viel Dollar am Weltmarkt unterwegs und China war ein sehr billiger Lieferant, womit sie im Endeffekt die Inflation hinunter drücken konnten, aber als Ergebnis gelangte die Handelsbilanz ins Ungleichgewicht. Zusätzlich wendete sich die Türkei unter einem Ein-Mann-Regimes von den Demokratisierungsbemühungen ab und die westlichen Investor*innen verließen das Land, wonach sich der Dollar rasant erhöhte. Vor 15 Jahren kostete 1 Dollar 1,8 TL heute liegt der Dollar bei 18 TL. Die politische Instabilität verursacht eine wirtschaftliche Instabilität gerade in einem Land wie die Türkei, die durch und durch von den weltpolitischen Entwicklungen abhängt. Auch das Wahlbündnis der Nationen kann bis dato keine Lösungsoptionen anbieten, außer, dass sie in die Zeit vor 2016 und damit in die Kemal Derviş-Ära zurückkehren möchten, wo die zentrale Notenbank unabhängig ist und Technokrat*innen geführt wird, d.h. nicht Erdoğan im Alleingang über die Wirtschaft entscheidet.

Erdoğan, der sich als Ökonom und alleinig Verantwortlicher für die Wirtschaft im Land proklamiert und mit dem Argument “Diese Männer machen nicht, was man ihnen sagt” in den letzten Monaten mindestens viermal den Chef der zentralen Notenbank abbestellt hat, hält beinhart die Zinsen niedrig. Wie hängt das mit dem rasanten Wertverlust der TL zusammen?

Erdoğan dachte wenn er nun das Gegenteil der Strukturanpassungsprogramme macht, nämlich wenn er die Zinsen niedrig hält, werden die Unternehmen Kredite aufnehmen und mehr produzieren; die Produkte würden weniger kosten und die Konsument*innen mehr kaufen, womit der Kreislauf sich wieder finden würde. Das Problem aber ist, dass die Kaufkraftparität in der Bevölkerung nicht passt und die Nachfrage entsprechend nicht steigen kann. Sein Argument “Zinsen sind die Ursache und die Inflation ist das Ergebnis” hat keinen realen Bezug. Wie am Anfang erläutert, spüren ein sehr großer Teil der Bevölkerung, das eben an der Armuts-, Hungers- und Mindestlohngrenze lebt, die Inflation bis zu 700 Prozent in den Grundnahrungsmitteln. Sie können also nicht konsumieren. Die Einkommen und Löhne sind zu niedrig, die Arbeitslosigkeit viel zu hoch. Für die Unternehmen lohnt es sich also nicht neue Kredite aufzunehmen. Heute sind im Land sowohl die Konsument*innen als auch die Unternehmen hoch verschuldet. Daher führt ein starker Zinsanstieg viele Unternehmen in die Insolvenz. Weder Erdoğan noch das “Wahlbündnis der Nationen” kann bis dato realistische Lösungen bieten.

Derzeit verschuldet sich Erdoğan bei Russland und den arabischen Staaten und baut damit ein Puffer bis zu den Wahlen im Juni 2023 auf und wie die Zeit danach aussehen wird, ist sehr besorgniserregend. Welche Lösungsoption können Sie aus Ihrer Expertise heraus anführen?

Die Türkei müsste zurück zu den Demokratisierungsbemühungen kehren und dort wiederansetzen. Die politischen und wegen freier Meinungsäußerung sich in Geiselhaft befindende Journalist*innen und Akademiker*innen, wie z.B. Osman Kavala und Selahaddin Demirtaş freilassen. Das wird ausländische Investor*innen wieder ins Land bringen und das Land wieder attraktiver machen. Dafür braucht es keiner Zinserhöhung oder -senkung. Der vorletzte durch Erdoğan bestellte und wieder abbestellte Chef der zentralen Notenbank, Naci Ağbal hatte im Gegenteil zu seinen beiden anderen Vorgängern die Zinsen stetig erhöht, womit er zunächst eine Art positive Wende zu bewirken schien. Dabei gingen die Wechselkurse zwar zurück, doch die ausländischen Investoren wollten mehr; das erzeugte Druck und verlangte weitere Zinserhöhung. Damit wurde eine Spirale nach unten erzeugt, wie das in Ungarn oder in Zimbabwe jeweils der Fall gewesen ist. Was das Land braucht ist eine stabile Politik mit einer demokratischen Öffnung, wodurch sie sich auch vor ausländischen Investor*innen nicht mehr zum Spielball machen lassen muss.

Was hat es mit der Idee einer „Türkei als China für Europa“ auf sich?

Erdoğan wollte eine Export-orienierte Wachstumsstrategie verfolgen, weswegen er außerdem die Zinsen niedrig halten möchte, aber es gibt zwei Chinas. Das echte China fokussiert auf einer arbeitsintensiven Produktion und das andere China-Modell ist z.B. Deutschland, das im Vergleich zu den südeuropäischen Ländern die Löhne runtergedrückt hat, weswegen Länder wie Spanien, Italien und Griechenland dann ein Handelsdefizit hatten und Deutschland aber am Ende einen Handelsüberschuss. Aber besonders Deutschland hat einen Kapital-intensive Produktion, d.h. sie exportieren Chemie, Autos und Maschinen. Das hat die Türkei z.B. noch nicht. Und der Vorteil vom echten China ist, dass es im Vergleich zur Türkei eine sehr große Bevölkerungsdichte hat, wodurch sie die Lohnstückkosten sehr niedrig halten kann. Die Türkei hat weiters keinen so großen Importpartner, z.B. wie die USA. D.h. die Türkei müsste sich überlegen auf welcher Produktion sie sich am Weltmarkt spezialisieren möchten; vielleicht die Pharmaindustrie oder die Textilindustrie hätte einiges Potential. Das Land braucht also eine andere Wachstumsstrategie.

Die Türkei ist Waffenexporteur (Drohnen) und Textilexporteur und versucht – die imperialistischen Akteur*innen der Welt zum Vorbild nehmend – außenpolitisch Einfluss entlang seiner südlichen Landesgrenzen, in den kurdischen Regionen Syriens und Iraks sowie in Libyen etc. zu nehmen. Das Land will eher diese Karte benutzen und keine demokratische Öffnung anstreben. Welche Interessen kann der globale Westen Ihrer Meinung nach mit dieser Türkei verfolgen?

Der geopolitische Zustand der Türkei ist sehr wichtig, aber diese Rolle bei der linken und der kurdischen Bewegung im Land wird meiner Meinung nach zu sehr unterschätzt. Auch ich musste feststellen und akzeptieren, dass Erdoğan genau diese Faktoren sehr gut durchschaut. Er weiß, dass das Land für den westlichen Kapitalismus sehr wichtig ist und das Land daher nicht fallen lassen würden, wie sie das in Argentinien, Libanon und Venezuela und anderswo getan haben. In der Türkei gibt es die Börse und über 10.000 ausländische Unternehmungen. Weiters verfügt die Türkei mit ihrer jungen Bevölkerung einen wichtigen Absatzmarkt sowie eine gute Quelle des Humankapitals mit qualifizierten Arbeitskräften. Die EU hat z.B. als Institution ihre Wirkungsmacht verloren und seine Referenzpunkte wie z.B. die Kopenhagener Kriterien werden nicht mehr so ernst genommen in der Türkei wie vor 20 Jahren. Was heute und insbesondere nach der Pandemie relevanter geworden ist und präferiert sind sicherheitspolitische Fragen. Die Türkei sollte also immer Brücke zum Nahen Osten bilden und daher wurde z.B. immer die Sonderpartnerschaftliche Rolle mit der Türkei hochgehalten. Heute hat die Türkei den EU-Auftrag diese Brücke geschlossen zu halten und die Flüchtlinge nicht durchzulassen. In der EU ist ein klarer Rechtsruck deutlich spürbar und soziale Themen werden von diesem politischen Spektrum vereinnahmt. Damit können sich die Fronten Türkei und EU eher verschärfen als umgekehrt. Und mit dem Flüchtlingsdeal hat umgekehrt aber die Türkei eine starke Karte in der Hand, vor der die EU wiederum Schritte zurück machen muss.

Sie meinen also, dass der globale Westen zunächst in der Beobachtungsphase ist, um zu sehen, in welche Richtung das Land sich weiter bewegt und wie schätzen Sie aus Ihrer Expertise heraus die wirtschaftliche und politische Entwicklung für die nächsten Jahre für die Türkei ein?

Ich sehe keine adäquaten Lösungsoptionen weder vonseiten Erdoğans noch von der Opposition im Land. Ich weiß nicht wie das Wahlergebnis im Juni 2023 tatsächlich werden wird und kann die nächsten fünf Jahre daher nicht wirklich einschätzen. Wie lange die Opposition unter diesen Umständen über Wasser halten wird, ist auch nicht wirklich vorhersehbar. Das Bündnis der Nationen ist außerdem in sich selbst eher gespalten, verfolgt keine gemeinsame Linie, wirkt eher instabil und nicht vertrauenswürdig bzw. nicht vielversprechend. Es ist ein taktischer Zusammenschluss, die bis dato keine gemeinsame Strategie für Wirtschaft und Politik kommunizieren kann. Ich finde Selahaddin Demirtaş könnte eine positive Wende für das Land bringen, doch dafür ist die sehr nationalistisch geladene Bevölkerung aufgrund dominierender Kurd*innenfeindlichkeit oder Kurdophobie auch heute nicht bereit, weswegen sie eben als Konsequenz mit allen Bestehenden leiden muss.

zeynemarslan, 25.12.2022 

 

Ökonom Dr. İlhan Döğüş

Dr. İlhan Döğüş verfasste 2017 sein PhD zum Thema „Essays on financialisation, market concentration and wage dispersion“ an der Universität Hamburg. An der Universität Rostock unterrichtete der Postdoktorand über Finanz- und Wirtschaftspolitik, Verteilung und Wettbewerb sowie Industrieökonomie. Finanz- und Wirtschaftspolitik sind die Forschungsschwerpunkte vom Wirtschaftswissenschaftler İlhan Döğüş. 

 

Youtube-Video: Wie erleben die Menschen die hohe Inflation in der Türkei? 

Kurzversion publiziert in Neues Leben Yeni Hayat, 30. Dezember 2022 – 12. Januar 2023, Nr. 317

Langversion publiziert in yenihayat.de

Kontakt zu Neues Leben Yeni Hayat: info@yenihayat.de 

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