Vorwort

Die vorliegende Arbeit eröffnet eine Reise in die Kultur-, Glaubens- und Sprachwelt der Menschen in und aus Dersim, die Mitglieder des Kızılbaş-Alevitischen Glaubens und Sprecher*innen der Zaza-Sprache sind. Dank der Möglichkeiten, die die Rahmenbedingungen der heutigen Welt bieten, wissen wir, dass es verschiedene Gesellschaften gibt, die unter der Bezeichnung „Alevit*innentümer“ zusammengefasst werden können. Während sich diese Gemeinschaften in ethnischer Zugehörigkeit, Sprache und Geographie sowie in der Art und Weise, wie sie den Glauben praktizieren und interpretieren, unterscheiden, weisen sie als dominierte, zum Teil marginalisierte und verfolgte Gruppen, Muster von Gemeinsamkeiten in soziologischen, sozioökonomischen, historischen und politischen Fragen auf. Mit dem Hinweis darauf, dass es bislang verschiedene Studien zum Themenfeld „Alevit*innentümer” gibt, die zwar noch in Kinderschuhen stecken und dennoch ein umfangreiches Forschungsareal bieten, genügt an dieser Stelle die Festhaltung, dass das Dersimische Kızılbaş-Alevit*innentum eine weitere originelle und indigene Struktur aufweist.

Inspiriert von seinem eigenen Leben bringt Ali Dikme die Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde und in der er aufgewachsen ist, seine im Laufe seines Lebens angeeigneten Erfahrungen und Zeugenschaft den Leser*innen näher. Diese Arbeit ist nicht nur in der vom Aussterben bedrohten Zaza-Sprache verfasst, sondern hat außerdem die Besonderheit inne, die Ausführung des Kızılbaş-Alevitischen Glaubens in ​​der Zaza-Sprache in Schrift zu fassen. Auf diese Weise erfährt das Glaubenssystem, das über Jahrhunderte hindurch bis in unsere Zeit mündlich weitergegeben wurde, geradezu zum ersten Mal eine strukturierte Verschriftlichung.

Dieses Buch ist außerdem ein besonderer Versuch das Wissen über eine Kultur, Lebensweise und Sprache, die aus der Zeug*innenschaft der Geschichte derMenschheit immer mehr verschwindet, an die nächsten Generationen zu übertragen. Das Vorhaben geht über die persönliche Motivation hinaus in eine historische Verantwortung, mit einer sinnstiftenden Haltung des Widerstands zum Überleben und Revitalisieren einer Sprache beizutragen. Insofern wird der Überlebenskampf jener, die dem Dersimisch-Kızılbaş Alevitischen Glauben und dem Norddialekt “Kırmancki” der Zaza-Sprache angehören und die als “ethnisierte Glaubensgemeinschaft” begründete Selbstbezeichnung “Kırmanc” führen, über den Lebenspfad und den Alltag einer Frau und eines Mannes skizzenhaft erzählt.

Die Daseinswerdung des Individuums innerhalb und mit der Gesellschaft in Wechselwirkung und die Reflexion beider innerhalb eines regulierenden indigenen Glaubenssystems werden vorgestellt. Von dem Moment an, in dem das Leben im Mutterleib beginnt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich der Korpus mit der Erde eint, wird eine Lebensreise mit gulvangu (pl. Gebeten), Glaubensritualen und Praktiken bildhaft dargestellt. In diesem Sinne liegt eine Arbeit vor, welche die rituellen Praxen zu den Lebensmeilensteinen und -stationen wie Ehe, Geburt, Beerdigung usw. in der Dersimisch-Kızılbaş-Alevitischen Lebenswelt beschreibt und damit außerdem als Wegweiser Verwendung finden kann.

Die Tatsache, dass sowohl Sprache als auch Glaube einer mündlichen Überlieferung unterliegen, bringt interessante Details und Erkundungsbereiche sowie verschiedene Schwierigkeiten mit sich. Wir wissen, dass es verschiedene Praktiken und Auslegungen gibt, die sich über Generationen hinweg verändert haben und in verschiedenen Regionen, sogar in verschiedenen Dörfern oder innerhalb von Familien, unterschiedlich gehandhabt und gelebt werden.

In der vorliegenden Arbeit vermittelt Ali Dikme die Formen, die er in seinem eigenen Leben und in seiner Region erlebt und bezeugt hat. Im Bewusstsein der Unterschiede, die individuell und/oder kollektiv erfahren und angewendet werden, gibt es auch Schnittpunkte, Intersektionalitäten und Abweichungen mit anderen real-bestehenden Facetten, womit er diesen Beitrag als eine weitere Farbe und Realität akzeptiert wissen möchte.

Das von Ali Dikme mündlich verwendete Zazaki ist das Nord-Zazaki und dessen Nord-Ost-Mundart, welche in der historischen Region des Nordost-Dersim gesprochen und durch die Menschen, die dort leben, im täglichen Gebrauch gelebt und ausgelegt wird. Hier ist es wichtig anzumerken, dass es selbst innerhalb der Landkreise und Dörfer Unterschiede im Ausdruck, in der Mundart, in der Phonetik und Begriffsverwendung gibt.

Dikme verfolgt nicht den Anspruch und die Mission, dass der Inhalt der vorliegenden Arbeit allgemeine Gültigkeit hat und die einzige Wahrheit ist. Wir können sagen, dass wieder eines der Fenster in die Dersimisch-Kızılbaş-Alevitische Welt geöffnet wird.

In der Welt der Linguistik hat sich in der europäischen Diaspora insbesondere seit Ende der 1980er Jahre ein Bewusstsein für diese nordwest-iranische Strömung der indo-germanischen Sprache entwickelt, die mittlerweile als „Zaza“ akzeptiert wird, und es wurden entsprechende Studien zur Sprache selbst eingeleitet.

Diese Bemühungen, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit fortgesetzt werden, werden aufgrund der politischen Konjunktur manchmal in unterschiedlichen Intensitäts- und Interessensbereichen priorisiert. Später, ab Ende der 1990er Jahre, stießen die Bemühungen um Zaza, insbesondere im Bereich der Musik, auf großes Interesse und in diesem Bereich kam es zu einem populären Aufstieg.

Nichtsdestotrotz bleiben, neben der Entwicklung anderer diverser Vorschläge, die Bemühungen, einen bestimmten Standard der Vielfalt, welche die Sprache prägt, zu erreichen das grundlegendste Phänomen, das das betreffende Fachgebiet bis heute dominiert.

Zweifellos können diese Studien nicht unabhängig von einflussreichen Debatten über politische Belange und nationalitätsgetriebene ethnische Zugehörigkeitsdiskussionen der Moderne geführt werden. Darüber hinaus zeigt die interdisziplinäre Perspektive aus sprachwissenschaftlicher Sicht zunächst, dass die real existierenden Gegegebenheiten selbst in ihren recht komplexen und interessanten Strukturen Neugier erwecken.

Während die Standardisierung der Zaza-Sprache noch in Entwicklung ist, setzt Dikme, der über keine einschlägige Bildung in Schrift und Schreiben verfügt, fern von theoretischer und standardisierter Sprachtechniken, seine Sprache, die er Zeit seines Lebens mündlich praktiziert hat, in der Weise, wie er sie denkt und fühlt, eins zu eins in die Schriftsprache. Wir haben den vorliegenden Text in Übereinstimmung mit jener Zaza-Sprache, die in der Region und im Dorf von Ali Dikme gesprochen und verwendet wird, redigiert. Diejenigen, die verschiedene Arbeiten über die Zaza-Sprache durchführen, werden verstehen, dass es Unterschiede in diesem Sinne gibt, aber diese keine Fehler darstellen, zumal die Sprache noch keine bestimmte Standardisierung erfahren hat. In diesem Sinne wurde bei der Redaktion der Sprache darauf geachtet, dass der Zaza-Sprache, die Ali Dikme lebt, treu geblieben wird. Wiederum wurde die in der vorliegenden Arbeit verwendete türkische und deutsche Übersetzung der Zaza-Sprache in Übereinstimmung mit der Wahrnehmung/Auffassung, Reflexion/Projektion und der Gefühlswelt der Sprecher*innen originell, passend und möglichst eins zu eins gemacht.

In diesem Sinne ist z.B. die türkische Übersetzung, die Sie lesen werden, verständlich, aber kein Standard-Türkisch. Diese Übersetzung achtet darauf, den Geist und den Charakter der Sprache so gut wie möglich widerzuspiegeln. Auf diese Weise spiegelt sie auch die Art und Weise wider, wie die Menschen in der Region Türkisch fühlen, denken, wahrnehmen und benutzen. Wir finden es angemessen, dieses „Lokal Türkisch“ oder „Regional Türkisch“ zu nennen. Umgekehrt können wir auch die Auswirkungen der später erlernten ersten standardisierten Fremdsprache auf die Art und Weise der Verwendung der Erstsprache feststellen. Diese Anwendung öffnet eine weitere Tür zu neuen vertieften Forschungsbereichen in Bezug auf Sprachgebrauch, Sprachenlernen, Sprach-Codierung, -Übertragung und -Gedächtnis, insbesondere im Hinblick auf Mehrsprachigkeit. In der Tat ist die Sprache lebendig und dynamisch sowie hybrid. Diese Idee wird untermauert und verfestigt, indem die Arbeit zum einen gemeinsam mit der deutschen und türkischen Übersetzung dreisprachig publiziert wird und zum anderen die Sprachtexte auf den Seiten einander horizontal-parallel gegenübergestellt positioniert sind. 

Bis die Arbeit die vorliegende Fassung erreichen konnte, wurde sie von einigen Menschen aufgegriffen und manchmal von neuem verfasst sowie aufgrund diverser Gründe über Jahre hinweg nicht abgeschlossen. 2016 wurde die Arbeit in der Form jener Zaza-Publikationen veröffentlicht, die bis heute gängig sind. Während all dieser Prozesse haben wir verschiedene positive und negative Erfahrungen gemacht, aber wir haben erkannt, dass es unter diesen Bedingungen nicht das sein kann, was wir wollten. Diese Arbeit erforderte ernsthafte Geduld, Ausdauer, Entschlossenheit, Engagement, Aufrichtigkeit, Interesse und Erfahrung.

Wenn ich es mit einem Beispiel meine Person betreffend benennen darf, nach dem Motto “jede Person ist ihres Glückes Schmied” habe auch ich endlich ernsthafte Schritte unternommen, um die Sprache zu lernen. In ihrer endgültigen Form scheint die Arbeit endlich eine sprachliche und ethnokulturelle Qualität erreicht zu haben. Wir meinen, dass sie in dieser Form  für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen interessantes Material liefern kann.

Zunächst danken wir Ali Dikme für sein Vertrauen und seine Geduld. Wir sind ihm außerdem dankbar, dass er uns den Dersimisch Kızılbaş-Alevitischen Glauben und die Zaza-Sprache näher gebracht sowie uns diese Welten aus einer anderen Perspektive vorgestellt hat. Der Versuch, diese Arbeit zur Mission zu machen, um das Wissen bleibend weiterzugeben, verdient ebenfalls Respekt, Bewunderung und Anerkennung. Damit zusammenhängend gehen mein endloser Respekt, meine Wertschätzung und mein Dank an alle meine Freund*innen, die die Arbeit mit mir von Grund auf neu redigiert, bearbeitet und übersetzt haben. Meine tiefste Wertschätzung und mein Dank gilt meiner werten Mutter, Elif Arslan, und allen Freund*innen, wie Semra Bulut, Hüseyin Tunç u.v.m. die ich auf irgendeine Weise konsultiert, um Rat und Austausch gebeten und angefragt habe.

Besonders die Bemühungen und die Unterstützung des werten Mirzali Zazaoğlu und meines sehr geliebten Vaters, Mehmet Arslan, sind für die Fertigstellung dieser Arbeit von größter Bedeutung. Als eine Person, die die Menschen sowie die Kultur- und Glaubenswelt der Region aus eigener Zugehörigkeit kennt, hat die vorliegende Arbeit mit den Illustrationen von Nur Tunç eine weitere wichtige Bereicherung im Sinne der bildlichen Darstellung der Geschichte errungen. Mit dem befähigenden und qualifizierten Beitrag des lieben Hawar Tornêcengi haben wir diese Arbeit gemeinsam zum Abschluss gebracht.

Abschließend möchte ich mich bei Dieter Halwachs, Angelika Heiling und dem Forschungsbereich Plurilingualismus am “treffpunkt sprachen – Zentrum für Sprache, Plurilingualismus und Fachdidaktik” an der Universität Graz für ihre Unterstützung, ihr Interesse und ihr Vertrauen bedanken…

Herausgeberin, Zeynep Arslan, 2023

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